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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 493

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

14. Oktober 2024

Heute: 1. VOLKSBÜHNE – "THE HUNGER“ / 2. DEUTSCHES THEATER KAMMER – "BLUE SKIES"/ 3. KABARETT-THEATER DISTEL – „DIE AMPELTHERAPIE“

1. Volksbühne - Kannibalismus im digitalen Dschungel

"Constanza Macras: The Hunger" in der Volksbühne © Thomas Aurin

Exzess ist immer gut im Theater. Es verspricht vieles und schließt Langeweile aus. So auch in der jüngsten Schöpfung von Constanza Macras. Wie in ihrem Stück „Drama“ übt die angesagte Choreografin mit ihrer Kompanie Dorky Park munter Kolonialismuskritik (mehr dazu im Blog Nr. 432 vom 23. September 2023). Allerdings nicht moralinsauer, sondern mit beißendem Witz. Wobei „beißend“ wörtlich gemeint ist, wenn der Abend an der Volksbühne den Titel „The Hunger“ trägt.

Die Argentinierin lässt sich von einem Roman ihres Landsmanns Juan José Saer inspirieren. In „Der fremde Zeuge“ erkundet ein Trupp spanischer Eroberer Anfang des 16. Jahrhunderts die Region des Rio de la Plata. Im Norden des heutigen Argentinien werden sie überfallen, von einer Gruppe Indigener, die man früher Ureinwohner nannte. Bis auf eine Person kommen alle Europäer ums Leben.

Diesen Inhalt sollte man kennen, wenn man sich auf die gut zwei schrill-lauten Stunden einlässt, aber selbst dann wird man nicht wirklich alles verstehen. Trotzdem nehmen die Bewegungen, die Bilder, die Kostüme, die Musik und auch die deutschen und englischen Texte das Publikum gefangen. Apropos gefangen: Der Junge aus der Gruppe der Conquistadoren, der als einziger das indigene Gemetzel überlebt hat, findet nun Aufnahme beim Volk der Colastiné. Als er Jahre später von den Spaniern befreit wird, gibt es einiges zu erinnern, zu erzählen, zu reflektieren.


Vom Kolonialismus zum Konsumrausch


Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Auch ein bisschen Kitsch darf sein. Vor allem was das Leben „wilder Völker“ betrifft, eigentlich konträr zu den Intentionen des Antikolonialismus. Farbenprächtig und detailverliebt wird es gezeichnet von Constanze Macras, die auch für Text und Regie verantwortlich ist, von Slavna Martinovics Kostümen zwischen Barockgewand und Discofummel, sowie Simon Lesemanns wandlungsfähiger Bühne, die gern auch mal Dschungelromantik beschwört.

Aber klar, das ist ja alles ironisch gemeint. So wie der Kannibalismus und die Orgien, wo es kreuz und quer, bzw. queer geht. Die Fress- und Sexszenen münden in heutige Tiktok-Filmchen. Vom Kolonialismus zum Konsumrausch. Fressen und Gefressenwerden im digitalen Urwald, wo nur der existiert, der auch wahrgenommen wird, von möglichst vielen Followern.

Wahrgenommen wird die mit vielen Preisen gekrönte Constanza Macras sogar in Hollywood. Von ihr stammt die Tanzszene im Kino-Kassenschlager „Poor Things“. Vor rund 20 Jahren gründete die Choreografin ihr kleines Universum Dorky Park, wo sich Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Herkunft und aus allen Sparten tummeln, Tanz vor allem, aber auch Schauspiel und Musik. Bei „The Hunger“ begegnen wir 15 Individuen.


Auch Scheitern will gelernt sein


So grausig die Romangeschichte ist, nimmt die 53-Jährige das Ganze nicht furchtbar ernst. Es darf gelacht werden. Es darf auch mal was schiefgehen. Mancher Tänzer ist hörbar kein Sänger. Und eine Schauspielerin nicht unbedingt Akrobatin. Die in dieser Hinsicht so hinreißend Scheiternde ist Anne Ratte-Polle, langjährige Stammkraft an der Volksbühne. Dafür kann sie in Großaufnahme unvergleichlich schielen und darf mit saloppen Sätzen den theoretischen Überbau auf den Boden der Tatsachen ziehen. Und trotzdem gelingen in der Gruppe, in Grüppchen und Soli immer wieder eindringliche, bewundernswerte Momente.

Wenn am Ende David Bowies „Life On Mars“ geträllert wird, wird schon klar, dass der nächste Kolonialismus bevorsteht: im Weltall. Vielleicht erleben wir die Dorkytruppe demnächst als Kosmonauten? Spannend wäre es.

Volksbühne, 18. Oktober und 4. November. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Deutsches Theater - Wenn die Natur zurückschlägt

"Blue Skies" im Deutschen Theater © Jasmin Schuller

300 Dollar für eine Schlange? Todd ist entsetzt über den neuen Mitbewohner, den ihm seine Freundin Cat ins Haus gebracht hat. Ein Tigerpython-Männchen. Cat nennt ihn Willy, wie der Orca-Wal aus dem Kino. Auch das Reptil strebt nach Freiheit und büchst alsbald aus dem Terrarium aus. Deshalb kauft sich Cat eine weitere Schlange, Willy zwei. Der Würger wird ihr Leben verändern.

Cat und Todd geht es eigentlich gut. Sie als Influencerin mit eigenem Online-Kanal, er als Botschafter von Bacardi, der sein Geld auf Partys verdient. Man leistet sich ein schickes Beach House in Florida. Dumm nur, dass der Beach immer kleiner wird, wenn der Ozean bedrohlich nahe kommt.

Die Natur schlägt zurück in „Blue Skies“, dem Roman von T.C. Boyle, aus dem Alexander Eisenach und Johann Otten für die Kammerspiele des Deutschen Theaters eine Bühnenfassung kreiert haben. Mit Mitte siebzig gilt Boyle immer noch als Punk unter den amerikanischen Autoren. Begeistert las ich einst seinen Roman „Grün ist die Hoffnung“, in dem drei Freaks in den Bergen bei San Francisco Marihuana anbauen, um ans dicke Geld zu kommen. Schon damals erwies sich die Natur als widerspenstig.

Gut vier Jahrzehnte später ist vom schrägen Witz wenig übrig geblieben. In „Blues Skies“ erschöpft sich Hoffnung in Beschwichtigungen, die Klimakatastrophe könne so schlimm nicht werden. Frisch gemixte Drinks dienen als Tranquilizer. T.C. Boyle litt als Kind unter der Alkoholsucht beider Eltern.


Apokalypse von Anfang an


Während Florida, der Sunshine State abzusaufen droht, hat es an der Westküste ewig nicht mehr geregnet. Kalifornien, wo Cats Familie lebt, gilt längst als Schwitzland, von Buschfeuern bedroht. Die Eltern ernähren sich, dem Gebot der Nachhaltigkeit gehorchend, von Lebensmitteln, die aus Insekten entstehen. Sogar aus Zecken, die sich aber als zickig erweisen. Den jungen Insektenforscher Cooper ereilt nach einem Biss eine üble Infektion, die ihn einen Arm kostet.

Der Klimawandel bewegt die Menschen, das ist auch am Vorverkauf des Deutschen Theaters ersichtlich, wo Alexander Eisenach die Story als düsteres, beinahe surreales Märchen anlegt. Mit Live-Musik (Niklas Kraft, Sven Michelson), Videos und vernebelter Beleuchtung erinnert das zweistündige Spektakel an ein Pop-Event.

Regisseur Eisenach präsentiert uns gar nicht erst die dem Untergang geweihte Idylle. Auf unablässig aktiver Drehbühne herrscht Apokalypse von Anfang an. Was auf Kosten der Spannung geht. Bühnenbildner Daniel Wollenzin vermeidet Realismus. Viele der Kostüme (Bettina Werner) könnten auch in einem Zombie-Film Verwendung finden, während Jeremy Mockridge als Todd mit Cowboyhut, Weste, Jeans und coolen Stiefeln für den American Dream steht, der längst ausgeträumt ist. Mareike Beykirch als Cat, die aus dem agilen Ensemble herausragt, ähnelt dem Reptil, das sie in ihrem Kanal als Schlangenlady erfolgreich darstellt.


Im Würgegriff der Elemente


Bald nach der Hochzeit gerät die Ehe, analog zum Klima, in die Krise. Cat wird schwanger, bringt gegen Todds Willen Zwillinge zur Welt. Eines der beiden Mädchen kommt zu Tode, durch Willy, die Riesenschlange. Sinnbild dafür, dass die Erde, wie in der Bibel erwähnt, nicht mehr Untertan ist, wenn man sie missbraucht.

Deutsches Theater, Kammer; bis 26. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Distel - Zwischen Kritik und Klamauk

"Die Ampeltherapie" in der Distel © © Chris Gonz_signBerlin

Wie reagieren Sie, wenn alle drei Farben einer Ampel gleichzeitig leuchten? Gehorchen Sie Rot und bleiben stehen, vertrauen Sie Gelb und warten ab, oder lassen Sie sich von Grün zum Losfahren animieren? So lautet eine der Aufgaben des „Seminars für verhaltensauffällige Politiker*innen“, mit dem die Diskussionskultur im Bundestag angesichts der gegenwärtigen Beschimpfungsarien wieder auf höheres Niveau gehoben werden soll. Allerdings wurden nicht Minister von der Parlamentspräsidentin zur Gruppensitzung verdonnert, sondern drei Hinterbänkler. Abgeordnete der Regierungsparteien, die sich nicht weniger biestig geben als die Politprominenz. Man ist sich halt nicht grün in der Koalition.

Was macht man als Kabarett, wenn die Regierung zuverlässig Realsatire abliefert? Die Distel wählt den Umweg über die Seelenmassage. „Die Ampeltherapie“ soll Respekt, Vertrauen und die Fähigkeit zur Entspannung vermitteln. Um seelische Traumata positiv zu beeinflussen, braucht es eine schonungslose Diagnose.

Und so kommt im 159. Distelprogramm, für das Timo Doleys, einer der drei Darsteller, das Buch verfasste, so ziemlich alles auf den Tisch, woran Deutschland gegenwärtig krankt. Die Last der Bürokratie, selbst bei den Kiffern eines Cannabis-Clubs in Finsterwalde. Die Krise im Gesundheitswesen, beim Besuch von Minister Lauterbach in der Sachsenklinik. Die Selbstgefälligkeit der Medien, wenn Lanz und Precht über Kaiserschmarrn talken. Die marode Infrastruktur, wenn die Fahrt mit den Öffis Tränenausbrüche verursacht. „Bis einer weint“, lautet schließlich der Untertitel der Satireshow.


Fernsehen unter AfD-Herrschaft


Die Digitalisierung scheint auch im Seminarraum nicht wirklich vorangekommen zu sein, wo man für interaktive Präsentationen auf den guten alten Overhead-Projektor setzt. Das Gerät könnte gut als Symbol für die Arbeit der Distel herhalten. Bis auf wenige Ausnahmen agiert man an der Friedrichstraße nach, sagen wir: altbewährtem Muster (mehr dazu im Blog Nr. 436 vom 17. September 2023). Dazu zählt das hauseigene „Orchester“ aus zwei vortrefflichen Multi-Instrumentalisten. Und Ohrwürmer, denen man einen neuen Text verpasst. So etwa die Hippie-Hymne aus „Hair“, wo statt „Aquarius“ nun „Pistorius“ gesungen wird.

So gerät die Therapiesitzung dann doch wieder zur Sketch-Revue zwischen Kritik und Klamauk. Da lacht man über eine esoterische Nummer mit dem „Dalai Olaf“ und erschrickt fast über die dystopische Schärfe eines TV-Morgenmagazins unter AfD-Herrschaft. Dank Sebastian Wirnitzers Regie und der parodistischen Vielseitigkeit des Trios auf der Bühne funktioniert das über weite Strecken. Neben Timo Doleys und Jens Eulenberger wirbelt in unzähligen Rollen Samia Dauenhauer. Die Neue im Ensemble, vom Publikum sofort ins Herz geschlossen, ist eine echte Bereicherung. Besonders als Eiserner Kanzler Bismarck, der seine Ideale von den heutigen Konservativen verraten sieht.

Distel, Berliner Kabarett-Theater, bis 14. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

 

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