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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 436

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

17. April 2023

Heute: 1. STAATSBALLETT BERLIN – „MESSA DA REQUIEM“ / 2. BERLINER KRIMINAL THEATER – „DER TAG, AN DEM DER PAPST GEKIDNAPPT WURDE“ / 3. DISTEL – „IM HINTERZIMMER DER MACHT“

1. Staatsballett - Die großen Fragen der Menschheit

Verdis Oratorium als überwältigendes Gesamtkunstwerk: „Messa da Requiem“ © Serghei Gerchiu
Verdis Oratorium als überwältigendes Gesamtkunstwerk: „Messa da Requiem“ © Serghei Gerchiu

Eine Totenmesse wird zum Hoffnungsträger. Guiseppe Verdis Oratorium „Messa da Requiem“ gehört zu den berühmtesten Chorwerken überhaupt. Christian Spuck, Noch-Direktor des Balletts Zürich, hat den überwältigenden Klängen eindrucksvolle Bilder zugefügt. Als Regisseur und Choreograf brachte er sein vertanztes Verdi-Requiem 2016 auf die Bühne des Zürcher Opernhauses. Der Produktion geht seitdem ein sagenhafter Ruf voraus. Zurecht, wie sich nun in der Deutschen Oper Berlin bestätigte. Spuck, ab nächster Spielzeit Intendant des Staatsballetts Berlin, übergibt mit der Erfolgsinszenierung dem Berliner Publikum seine künstlerische Visitenkarte, mit den Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts, dem mit dem Oratorium seit langem vertrauten Rundfunkchor Berlin sowie dem Orchester der Deutschen Oper.

Ein vertanztes Requiem, da denkt man zunächst, das Ballett würde das Geschehen auf der Bühne dominieren, während Chor und Orchester brav die Musik zum Tanz beisteuern. Doch Christian Spuck hat ein Gesamtkunstwerk geschaffen, bei dem alle Beteiligten gleichberechtigt miteinander agieren. Wie die Solisten und die gesamte Ballett-Compagnie ist auch der 80-köpfige, schwarz gekleidete Chor (Leitung: Gijs Leenaars) viel in Bewegung, ohne dass die gesangliche Qualität darunter leidet. Ballettgrößen wie Polina Semionova, Weronika Frodyma oder Sacha Males stehen nicht immer im Rampenlicht, die Pas de deux finden mitunter im Hintergrund statt. Immer wieder bilden sich in düsterer, von Martin Gebhardts Lichtgestaltung dominierter Szenerie neue kleine und große Personengruppen. Sie erinnern mal an eine Pietá, mal an einen Beerdigungszug, zeigen, wie der Tod Menschenmassen als Trauergemeinde, als Schicksalsgemeinschaft vereint.

Bühnenbildner Christian Schmidt hat einen großen, auch nach oben geschlossenen dunklen Raum geschaffen, auf dem Boden liegt schwarzer Schnee, der durch die Bewegungen hochgewirbelt wird und vielen Tänzern an der Haut anhaftet. Etwas Schreckliches ist geschehen. Was genau, erfahren wir nicht. So sind wir frei mit unseren Assoziationen. Spuck versucht nicht, dem Requiem eine Handlung überzustülpen. Alle Beteiligten verkörpern keine Rolle, sie sollen als Individuen auftreten. Es geht allgemein um die großen Fragen der Menschheit, um die Auseinandersetzung mit dem Sterben. Um Entsetzen, Trauer, Verzweiflung, Geborgenheit und Trost. Etwas, was uns naturgemäß ohne Ausnahme alle angeht. Auch Verdi, der früh den Verlust von Frau und Kindern bewältigen musste.


Oratorium mit weltlichem Charakter


Für sein 1874 vollendetes Requiem verwendete der Komponist den lateinischen Text der katholischen Liturgie. Doch die Totenmesse hat eher weltlichen Charakter. Sie wurde für den Dichter Alessandro Manzoni komponiert, eine führende Figur des Risorgimento, der italienischen Nationalbewegung, für die sich auch der Kirchenkritiker Verdi begeisterte.

Sein Requiem bezeichnet man gern als „Oper in liturgischem Gewand“, zwischen dem Pianissimo der Anfangstakte und dem ebenso leisen Schluss klingt immer wieder das Musiktheater-Genie durch. Etwa, wenn sich die großartigen Solostimmen von Olesya Golovneva (Sopran), Annika Schlicht (Mezzosopran), Andrei Danilov (Tenor) und Lawson Anderson (Bass) zum Ensemble vereinen. Oder beim berühmten, mit dem jüngsten Gericht drohenden Chor „Dies Irae“, der an die Schilderung der Seeschlacht zu Beginn von „Otello“ erinnert. Bei manchen Passagen des unter Dirigent Nicholas Carter prächtig aufspielenden Orchesters fühlt man sich klanglich in „Don Carlo“ oder „Aida“ versetzt. Seit jeher wird das Oratorium mehr im Konzertsaal als im sakralen Rahmen aufgeführt.


Jubelsturm bei der Premiere


Aber: Das Requiem ist keine Oper! Das macht Spuck, der als Opernregisseur schon zweimal in der Deutschen Oper arbeitete, deutlich. Mit seiner szenischen Umsetzung, die keine Geschichte erzählt, immer abstrakt bleibt und vielleicht genau deswegen Emotionen auslöst. Mag sein, dass Ballett-Fans einen deutlicheren tänzerischen Kommentar zum Thema vermissen. So bleibt die spannende Frage, was sich beim Staatsballett auf der Bühne tun wird, wenn es in erster Linie um Tanz geht.

Am Ende des Requiems senkt sich die Decke herab und begräbt alle Personen unter sich. Es gibt kein Entkommen. Nur eine Frau in Weiß ist auf dem Dach zu sehen. Ein Engel? Wer kann das beantworten. Aus dem anschließenden Jubelsturm des Premierenpublikums meint man auch eine gewisse Erleichterung herauszuhören, angesichts der Perspektiven, die Spucks Intendanz nach den turbulenten Jahren an der Spitze der Compagnie verspricht.

Deutsche Oper Berlin, 4., 6., 12. Mai, weitere Termine im Juni. Hier geht's zu den Karten.


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2. Kriminaltheater - Wenn Frieden so einfach wäre

Entführung für einen guten Zweck: „Der Tag, an dem der Papst gekidnappt wurde“ © Herbert Schulze
Entführung für einen guten Zweck: „Der Tag, an dem der Papst gekidnappt wurde“ © Herbert Schulze

In New York werden gemeinhin die Taxifahrer von ihren Fahrgästen überfallen. In dieser Komödie verhält es sich umgekehrt. Sam Leibowitz hat den Mann, der aus einem Seitenausgang des Waldorf Astoria schlüpfte, kurzerhand mit seiner Droschke entführt, ihn in seine Wohnung nach Brooklyn gebracht und dort in der Speisekammer eingeschlossen. Da der Kidnapper Jude ist, handelt es sich um eine koschere Speisekammer. Obwohl der Gefangene ein Käppchen trägt, ist er kein Glaubensgenosse, im Gegenteil. Samuel Leibowitz hat das Oberhaupt der katholischen Kirche in seiner Gewalt: Papst Albert IV., der zu Besuch in New York weilt.

„Der Tag, an dem der Papst gekidnappt wurde“ ist das erfolgreichste Stück von Joao Bethencourt (1924-2006). Der in Budapest geborene Autor, der als Zehnjähriger nach Brasilien kam, brachte seinen Zweiakter 1972 heraus. Rasch wurde die Komödie zu einem Klassiker vor allem auf kleineren Bühnen. Im Berliner Kriminal Theater hat nun Thomas Wingrich das turbulente Spiel um Toleranz und Frieden inszeniert. Ein Stück ohne Mord, das sieht man selten auf der Bühne im Friedrichshainer Umspannwerk.

Als Ehefrau Sara und die halbwüchsigen Kinder Irving und Miriam herausfinden, was der so meschuggene wie erfindungsreiche Samuel da mal wieder ausgeheckt hat, bricht in der Familie zunächst Heulen und Wehklagen aus. Im Fernsehen ist von einer Million Dollar Lösegeldforderung die Rede, doch Samuel, dessen ältester Sohn als US-Soldat in Vietnam geblieben ist, will etwas ganz anderes: einen weltweiten Friedenstag, 24 Stunden, in denen niemand einen anderen Menschen töten darf.


Gefahr durch geistliche Würdenträger


So fiktiv wie Papst Albert ist leider auch der erfolgreiche Coup. In der Realität würde ein Großteil der Menschheit auf den Mann aus dem Vatikan keinen Pfifferling geben. In der Komödie dagegen wird der Friedenstag Wirklichkeit, bevor dann mit Gefechten, Unruhen, Putschen wieder der „normale“ Alltag auf der Erde einkehrt.

Die schönste Seite des Stücks ist die Entwicklung im Privaten. Der Papst fühlt sich alsbald pudelwohl in der jüdischen Familie, die ihn wie einen Gast behandelt. Besonders Sara kommt er beim gemeinsamen Kartoffelschälen in der Küche menschlich nahe. Und da die Sehnsucht nach Frieden Glaubensgrenzen überschreitet, lässt sich der Katholik von der Idee seines Kidnappers überzeugen.

Dass der wunderbare Plan zu scheitern droht, liegt nicht zuletzt an geistlichen Würdenträgern. Der Rabbi fällt seinem Neffen Samuel in den Rücken, weil er die ausgeschriebene Belohnung für seine „Schule“ (Synagoge) benötigt, und auch der New Yorker Kardinal bringt seinen Heiligen Vater aus eher unchristlichen Motiven in Gefahr. Denn die Armee hat mittlerweile das Haus umstellt. Sam versucht die Erstürmung mit Sprengstoff-Barrieren zu verhindern.

Obwohl auch nachdenkliche Sätze fallen, ist der Spaßfaktor im Kriminaltheater hoch. Mit entsprechender Spielfreude geht das Ensemble zu Werke, allen voran Cordula Piepenbring als Mutter Sara und Silvio Hildebrandt als Samuel. Jean Maeser glänzt als Albert IV. mit edler Zurückhaltung, während Hartmut Kühn als jiddelnder Rabbi Meyer, im Gegensatz zu den übrigen Rollen, zu sehr in die Klischeekiste greift.

Berliner Kriminal Theater, 26. April, 4., 17. und 26. Mai. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Distel - Das Parlament als Panoptikum

Der wichtigste Ort des Bundestages: Stefan Martin Müller, Caroline Lux und Jens Eulenberger sind „Im Hinterzimmer der Macht“  © Chris Gonz
Der wichtigste Ort des Bundestages: Stefan Martin Müller, Caroline Lux und Jens Eulenberger sind „Im Hinterzimmer der Macht“ © Chris Gonz

Eine Wand wie in einer Galerie dominiert die Bühne. Bestückt ist sie aber nicht mit Bildern, sondern mit einer Ansammlung von Klodeckeln. Eine ungewöhnliche Ausstattung, die Wiebke Horn, im Hauptberuf Kostümdirektorin an der Deutschen Oper, für das Kabarett-Theater Distel entworfen hat.

Die aufklappbaren WC-Sitze sind mit den unterschiedlichsten Motiven verziert. Unter anderem mit dem Berliner Fernsehturm. Den sollte man, da kennen die Hauptstädter keinen Spaß, nicht mit dem Funkturm verwechseln, wie ein Zugereister gleich zu Beginn erklärt bekommt, ein frisch gewählter Abgeordneter, der mit vielen Idealen nach Berlin gezogen ist. Aber keine Bange, das legt sich irgendwann…

Wir sind am wichtigsten Ort des Bundestages, der Toilette. Das Örtchen, an dem es alles andere als still zugeht. Hier begegnen sich Parlamentarier, Wirtschaftsvertreter, Saaldiener, Ghostwriter, Handwerker und Agenten. „Im Hinterzimmer der Macht“ werden die wirklich wichtigen Geschäfte abgewickelt. Abseits des Fraktionszwangs tätigt man vor Gesetzesbeschlüssen oder Ausschuss-Sitzungen die perfekten Deals.


Die Distel dreht auf


Eine „schwindelige Bundestagsrevue“, verfasst vom Duo ONKeL fISCH. Adrian Engels und Markus Riedinger feiern als Autoren und Schauspieler auf der Bühne, in Radio und Fernsehen Erfolge mit ihrem Action-Kabarett. Die Distel hat von ihnen nun erstmals ein komplettes Stück bekommen.

Man kann sagen: Die Distel, die im Herbst 70 Jahre wird, dreht auf. Szenisch, darstellerisch, musikalisch und vom Lachfaktor her ist die neue Produktion das Rasanteste, was ich dort seit langem gesehen habe. Das Ensemble agiert wie ein Surfer, der elegant über die Wellen reitet und dabei, soviel Meckerei muss sein, den Tiefgang vermeidet.

Kabarett ohne Scheu vor Slapstick und Kalauern, gnadenlos unterhaltsam. Es zeichnet anhand von Expeditionen ins Lobbyistenreich die Mächtigen als Mafiabande, die trotz allem aber nicht wirklich unsympathisch daherkommt. Mit gewissen Ausnahmen: Die Szene, in der AfD-Flügel Höcke der Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel beibringt, ihre Rede mit vielen rollenden „r“ vorzutragen, A.W. also wie A.H. klingen zu lassen, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.


Habeck bricht Frauenherzen


Der Elan des Autorenduos und Sebastian Wirnitzers rasante Regie verhelfen dem Trio auf der Bühne zu Höhenflügen. Auch Choreografin Marita Erxleben hatte sichtlich viel zu tun, wobei die Herren mehr Mühe mit dem Hüftschwung offenbaren als die agile Caroline Lux, der man ihre Ballett-Vergangenheit anmerkt. Die beiden Männerrollen sind doppelt besetzt. Ich erlebte neben dem juvenil wirkenden Distel-Haudegen Stefan Martin Müller den jüngeren Kollegen Jens Neutag, der äußerlich Robert Habeck ziemlich ähnelt. Was ihm bei seiner Parodie des Wirtschaftsministers, der als Womanizer gilt, natürlich entgegenkommt. Bei „Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n“ muss der grüne Minister den Evergreen immer wieder unterbrechen, weil der Text dem diversen Zeitgeist widerspricht.

So wie das Trio auf der Bühne bisweilen im Sekundentakt in neue Rollen und Verkleidungen schlüpft, so schnell wechseln unten die Musiker Falk Breitkreuz und Tilman Ritter die Instrumente. Popmusik in allen Stilrichtungen wird mit neuen Texten serviert. Caroline Lux gibt die Merkel zu „16 Jahr Angela“ frei nach Udo Jürgens, aber genauso überzeugend verkörpert sie auch Herrn Lauterbach.

Elegant zitiert man zudem einen Klassiker deutschen Humors: Loriots Rentner, der sich bei seiner Frau rechtfertigen muss, weil er einfach mal „nichts“ machen möchte, wird hier durch einen Abgeordneten ersetzt. Der Sketch funktioniert trotzdem…

Distel – Berliner Kabarett-Theater, 21., 22., 28., 29. April. Weitere Termine im Mai und Juni. Hier geht’s zu den Karten.

 

 

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