HEUTE: 1. Deutsches Theater – „Schiff der Träume“ / 2. Neuköllner Oper Studiobühne – „Subotnik“ / 3. Hans Otto Theater Potsdam – „7 ½ Brücken“ / Extra-Tipp: Thomas Mann im DT
Der Luxusliner „Gloria N“ hat eine kostbare Fracht: Die Asche „der größten Operndiva aller Zeiten“ in der Urne. Und noch dazu – doch sehr lebendig – eine Ladung buntschillernder Stars, Sternchen, Fans und Rampensäue aus dem Fundus der gehobenen Kunstwirtschaft. Sie schippert übers Mittelmeer zur Seebestattung der angebeteten Opernsängerin Edmea Tetua.
Wir schreiben das Jahr 1914; der Erste Weltkrieg ist gerade ausgebrochen, und sofort stört er die grelle Trauergesellschaft: Serbische Bootsflüchtlinge wollen gerettet werden, ein österreich-ungarisches Kriegsschiff dampft bedrohlich herbei.
So das Setting von Federico Fellinis zirzensisch opulentem, dennoch schwer konfliktbeladenem Film „Das Schiff der Träume“ von 1983. Jetzt eröffnete das DT seine Saison damit in einer Bearbeitung von Thomas Perle; nun heißt es „Das Schiff der Träume (fährt einfach weiter)“ – beigemischt sind Wortbeiträge aus dem Ensemble.
Freak-Show statt Menschendrama
Die Überraschung: Fellinis harsche Einstiche der Realität in die elitäre Blase des Kultur- und Gesellschaftsbetriebs kommen höchstens stichwortartig als blasse Nebensache vor. Stattdessen gefällt sich die DT-Dampferfahrt im spaßigen Ausstellen einer realitätsblinden, um sich selbst kreiselnden, gierigen, geilen, dabei unbefriedigten Schickimicki-Bagage. Alles alberne Affen, eitle Clowns eines lächerlichen Geniekults, Witzfiguren der Gefühle. Ausgestattet mit so verrückten wie edlen Kostümen (Bravo: Vanessa Rust!). Und mit meterhoch getürmten Frisuren (Bravo dem Team Maske!). Unentwegt turteln, hampeln, schwuchteln, giften oder heulen acht Karikaturen wie zur Freak- oder Travestie-Show mit Ausrutschern zum CSD.
Immerhin, zwischendurch wird zur Live-Musik auch hübsch geträllert, zuweilen gekreischt und sogar erhebend fein gesungen (Kompositionen: Peer Baierlein). – Doch was geht uns dieser Reigen dekadent Weltentrückter an? Es sei denn, die blasse Botschaft wäre: Das Narrenschiff schippert weiter und weiter, blindlings. Für 90 Minuten ganz gut gemachte Publikumsbelustigung. Aber was soll das ohne krachenden Konflikt mit einer Gegenkraft, ja Gegenwelt? Ob von anno 1914 oder anno 2024.
Freilich, die großartige Anja Schneider als Moderatorin der Show stellt gleich zu Anfang kurz klar: Man tanze auf dem Vulkan in den Tod. Aha, alles Allotria. Soll als Warnbild treiben in Richtung Menschheitsuntergang, was – wie schade – bloß Behauptung bleibt.
Anmerkung.
Drei Wochen vor der Premiere stieg die Regisseurin Claudia Bauer krankheitsbedingt aus (einst begeisterte ihr frecher Dadaismus mit Kurt Schwitters „Ursonate“ im DT). Nun übernahm Anna Bergmann mutig aber glücklos das wohl ohnehin problematische Halbfabrikat. Statt Vorhang auf um jeden Preis wäre eine Verschiebung der Produktion das Bessere gewesen. Liefert doch dieser so fragwürdige Stapellauf in die 141. Spielzeit nichts, um dem ohnehin nur dürftig mit Lorbeer dekorierten DT aufzuhelfen.
Deutsches Theater, bis 31. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.
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„Subotnik“ – das geht auf Lenin zurück. Er initiierte in den Aufbaujahren der Sowjet-Zeit unentgeltliche Arbeitseinsätze an freien Wochenenden, genannt Subotniks (von russisch Subota = Samstag).
In der Kammeroper „Subotnik“ bekommt der Begriff einen entsetzlich zynischen Bedeutungswechsel: Da droht ein Mädchenhändler seinen Opfern mit Subotnik, wenn sie nicht tun, was er will. Und das meint Folter, Vergewaltigung, Kerker. Besagter Kerl ist gefasst worden, kommt vor Gericht, die Beweisführung bleibt schwierig. Schließlich wird ein Opfer aus einem rumänischen Dorf gefunden, nimmt ihren Mut zusammen und packt aus. Der Verbrecher bekommt 14 Jahre und sechs Monate.
Der Musiktheater-Einakter basiert auf einer Erzählung von Ferdinand von Schirach, dem berühmten Strafverteidiger und Schriftsteller, dem mit seinen nüchternen Prozessanalysen erregende Bestseller gelangen. Alles dreht sich darin um das bedingungslose Behaupten der Gesetzestreue, der Rechtsstaatlichkeit, auf die auch der schlimmste Täter ein Recht hat. Aufgabe der Strafverteidigung ist es, dies durchzusetzen – auch jenseits womöglich auflodernder moralischer Bedenken oder Gewissensbisse.
Somit steht die klassische Frage im Raum: Wie nur soll man im Fall Subotnik einen erwiesenen Frauenschänder noch verteidigen? Ein quälendes Mandat, das Seyma, eine junge Deutschtürkin mit erstklassigen Abschlüssen von ihrem Arbeitgeber, einer gleichfalls erstklassigen Kanzlei, zugewiesen bekam.
Seyma entstammt einer streng religiösen, patriarchalisch dominierten Familie, die sie einst in Koranschulen presste. Die dogmatisch geprägte Herkunft, die Ablehnung einer göttlichen Rechtsprechung brachte Seyma zum Jurastudium. Ihre Motivation: „Das Recht soll mich, soll alle schützen.“ Alle – also auch jeden Täter!
Die Gefühle und die Gesetze
Und so erzählt die Geschichte von Skrupeln, ja Seelenschmerzen der Anwälte und von der aufzubringenden Kraft, sie rigoros beiseite zu stellen, auch entgegen herrschender Publikumskritik. Und obendrein vom besonderen Druck auf die ehrgeizige Seyma, erfolgreich zu sein. Heißt es doch, ihre renommierte Kanzlei habe noch nie einen Prozess verloren.
Also geht sie trotz der erdrückenden Beweise durch die Opfer-Aussage in Revision – und entdeckt nach wochenlangem Aktenstudium tatsächlich einen banalen Verfahrensfehler. Der Prozess wird wieder aufgerollt – und der Täter jetzt freigesprochen. „Die Beweislage reicht für eine Verurteilung nicht aus.“ Weil: Die Kronzeugin steht nicht mehr zur Verfügung; sie ist tot.
Die Regisseurin und Librettistin Theresa von Halle spaltet die Rolle der Seyma dreifach auf: Eine Schauspielerin (Franziska Junge), einen atemberaubenden Mezzo (Chara Duchomble tönt schon scharf wie eine Elektra oder Kundry) und eine Pianistin (Henriette Zahn). Durchsetzt ist dieser so bestürzende Report aus dem Gerichtsbetrieb mit Originaleinsprechern von Strafverteidigern aus Hamburg und Berlin über ihre sehr besonderen Herausforderungen sowie mit teils atonaler Musik, teils wuchtig expressiven Klangballungen von Samuel Penderbayne – alles am vehement traktierten Klavier.
„Subotnik“ wurde ausgezeichnet mit dem von der Neuköllner Oper und der Gasag ausgelobten Berliner Opernpreis. Noch bis zum 8. November. Hier geht's zu den Karten.
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Ein wild aufgebauschter Stoffballen stürzt an die Rampe und sprudelt heraus: „Ich hatte keine andere Wahl – das Urstromtal. Und Potsdam, die Mondäne, lagert auf einer Endmoräne.“ Es ist die personifizierte Havel, die gleich anfangs Erdgeschichtliches umreißt. Es ist der so schöne und von allen so geliebte Urgrund, warum Potsdam auf einer Insel lagert, mithin Brücken braucht. Zählen wir die großen, sind es sieben: Glienicker, Humboldt, Niedlitzer, Lange Brücke, Baumgartenbrücke und zwei für die Eisenbahn. Und so nennt denn Jan Neumann, Autor und Regisseur, sein Potsdam-Porträt „7 ½ Brücken“. – Aber wieso noch eine halbe? – Sie steht als Metapher für die historischen wie gegenwärtigen, für die geistigen, politischen und baulichen Ab- und Umbrüche der Stadt. Für Unvollendetes; für die Träume und Sehnsüchte ihrer Bewohner damals und heute.
Und so wirft denn Neumanns opulente Dreistunden-Show jede Menge Blitzlichter auf sämtliche Epochen – von der frühen Besiedlung bis hin zum 21 Jahrhundert – in einer grellbunten, zuweilen melancholischen oder auch bitterernsten Mischung aus Historiendrama und Dokumentarstück. – Da treten die Langen Kerls auf in der Kasernenstadt, ein Soldat der Bundeswehr, der Stummfilm-Star aus Babelsberg, das Zimmermädchen Stalins in Cecilienhof, der polnische Zwangsarbeiter, die Hausbesetzerszene nach 1990, ein sprechendes Pferdegespann aus Hungerzeiten, der NVA-Grenzsoldat von der Güst (Grenzübergangsstelle) Griebnitzsee, immer wieder die große Havel und dazu die kleine Nuthe, der Maulbeerbaum und der Seidenraupenspinner und natürlich Günther Jauch.
Kaserne, Krieg, Zerstörung, Aufbau
Sketche, Gesang, Kalauer, Kurzszenen und viele, oft allzu lange Monologe im fliegenden Wechsel. Manchmal klingt es nach Revue und Kabarett, mal wie kleines Kammerspiel und immer wieder auch wie Wikipedia.
Ziemlich aufregend jedoch, wie der Krach in einer West-Ost-Familie eskaliert. Es geht ums Preußentum, um gute (oder schlechte) Preußische Tugenden, um Untertanengeist, um den berüchtigten Tag von Potsdam einschließlich den Turmneubau der Garnisonskirche. Dann zerbrechen zwei Angler sich den Kopf über das Namenswirrwarr um die vielen Wilhelms, Friedrichs eins, zwei, drei. Man feiert den Wissenschaftsstandort, das schöne alte wie das restauriert Barocke, betrauert die schwere Kriegszerstörung, schimpft über Abriss und Wiederaufbau in der DDR und rühmt ihn, wie man die Rekonstruktionen der BRD bestaunt und bekrittelt. Das epochale Toleranzedikt des Großen Friedrich wird als Pas de deux getanzt und gelegentlich wird heftig gewettert über mürrische brandenburgische Borniertheit.
Das menschlich Authentische, beigesteuert von Erlebnissen des neunköpfigen Ensembles, das possierlich Märchenhafte, die Geschichten und die Geschichte – das alles ist durcheinandergewürfelt mit Passagen wie aus dem Brockhaus. Neumann stopft diesen Potsdam-Bilderbogen im XXXL-Format enthusiastisch voll bis zum Rand mit der extrem wechselvollen Stadtgeschichte. Und das begeisterte Publikum im ausverkauften Haus ist mit loderndem Herzen dabei. Man fühlt sich bestens belehrt und unterhalten.
Hans Otto Theater Potsdam, 9. November. Hier geht’s zu den Karten.
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Extra-Tipp: 100 Jahre "Zauberberg" Barbara Schnitzler liest Thomas Mann
„Einem Säufer, einem Giftmischer, einem Selbstmörder, einer intellektuellen Ruine, von einem Luderleben zerstört, behaftet Goldsäcken und Quartanfieber zieht Thomas Mann meine Kleider an…“ wetterte Gerhart Hauptmann. Tatsächlich gesteht Thomas Mann, er habe beim Schreiben seines Romans „Der Zauberberg“ bei der schillernden Figur des Mynheer Peperkorn, einem holländischen „Kaffeekönig im Ruhestand“, an seinen Kollegen Hauptmann gedacht. Das weltberühmte Buch erschien am 20. November 1924. Und just an diesem Tag, ein Jahrhundert später, liest Barbara Schnitzler aus dem siebenten, dem Peperkorn- Kapitel.
Deutsches Theater, Rangfoyer, 20. November, 19.30 Uhr. Hier geht’s zu den Karten.
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder
1. Vaganten Nathan abgespeckt und aufgepeppt
2. Berliner Ensemble Remmidemmi ohne Ende
3. Atze Musiktheater Ernst gemeint im Spiel
1. Staatsballett Zwischen Laufsteg und Happening
2. Gorki Kafka wird der Prozess gemacht
3. Hans Otto Theater Vom Tod eines Unsterblichen
1. Deutsches Theater Mit Fellini zum CSD
2. Neuköllner Oper Die korrekte Strenge des Gesetzes
3. Hans Otto Theater Die Mondäne auf der Endmoräne
1. Volksbühne Kannibalismus im digitalen Dschungel
2. Deutsches Theater Wenn die Natur zurückschlägt
3. Distel Zwischen Kritik und Klamauk