HEUTE: 1. Schaubühne – „Angriffe auf Anne“ / 2. Gorki Theater – „Brasch – "Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht“ / 3. Renaissance Theater – „Berlin is ja so groß… Ein Berlinical“ / Extra-Tipp: „ABBA jetzt!“ im Berliner Ensemble
Wir kennen das: Da gibt es eine, sagen wir, dubiose, doch gerade deshalb interessante fremde Person. Wir sind neugierig, wir hören uns um und erfahren aus denkbar verschiedenen Quellen ganz Unterschiedliches. Gegensätzliches. Aber kein schlüssiges Gesamtbild.
So ergeht’s uns mit „Angriffe auf Anne“, dem aus Bruchstücken, szenischen Miniaturen, diversen Ansagen bestehenden Stück von Martin Crimp. Der Engländer schrieb es 1997 für das seinerzeit avantgardistisch führende Londoner Royal Court Theatre. Da schlug das Thema Identität erstmals hohe Wellen; und „Anne“ wurde ein Riesenerfolg.
„Attempts on Her Life“ – den Originaltitel mag man mit „Versuche über ihr Leben“ oder auch „Anschläge auf ihr Leben“ übersetzen. Die kaleidoskopische Spiegelung des Lebens einer fiktiven Figur, der jungen Frau Anne, das war lesbar als um Fairness bemühte oder auch aggressiv-diskriminierende Spurensuche. Denn immerhin, die Bandbreite der Aussagen – ihre Herkunft bleibt diffus – ist enorm. Sie reicht von Touristin, Terroristin, Mörderin, Künstlerin, Wissenschaftlerin, Model für Autowerbung, Mutter und Sex-Gespielin bis hin zum braven Mädchen.
Ein raffiniert komponiertes Puzzle von Facetten echter, scheinbarer oder angehängter Identitäten. Heutzutage, im Zeitalter von Social Media, nichts Unbekanntes... Was heißt da „Ich“?
Der Autor schöpfte vor drei Jahrzehnten die Fülle der Möglichkeiten noch aus dem Zettelkasten, wie er gestand. So sei sein „Ich-laufe-durch-die-Stadt-Stück“ entstanden. Das auch ein kurzer Lauf ist durch ein Stück Welt. – Freilich einer ohne eine Ankunft. Wir sind vage erinnert an Ibsens Peer Gynt.
Spiegel, Masken, Farbspiele und ein Schmachtfetzen von Robbie Williams
Die Regisseurin Lilja Rupprecht hat – dies vorweg – einen feinen Sinn für Poesie und Aberwitz. Sie verteilt die „17 Szenarien für das Theater“ (in Falk Richters durch Lakonie und Sarkasmus bestechenden, cool heutigen Übersetzung) auf nur drei Spieler. Also Kammerspiel mit Auftritten in spektakulärer Maskierung und aufregender Kostümierung. Alles im fliegenden Wechsel.
So mäandern denn Jule Böwe, Marcel Kohler und Kay Bartholomäus Schulze, gelegentlich frech die Geschlechterrollen tauschend oder gekonnt einen Popsong hinwerfend, durch die mit Spiegeln und Farbspielen fantastisch ausgestatteten Vexierbilder (Bühne und Kostüm: Annelies Vanlaere; Video: Rebecca Riedel; Livemusik: betörend Fabian Ristau, der auch herzzerreißend singt). Das Ganze gleicht einer lässig hin getuschten Show mit virtuosem Komödianten-Trio. Freilich, ernste, bedrohliche Momente werden nicht unter den Revueteppich gekehrt. Bleiben aber dennoch allzu beiläufig. Dafür treiben die unterhaltsamen 100 Minuten immer wieder mit Schwung ins unergründlich Absurde.
Schaubühne, 23. März, 26. und 27. April. Hier geht’s zu den Karten.
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Zwei schräge Vögel landen irgendwo am Rande der Stadt – und der Gesellschaft. Sie nennen sich Sakko und Oi. Sakko (Edgar Eckert) ist ohne Arbeit; Oi (Klara Deutschmann) gaunert sich zusammen, was sie braucht. Ihre Philosophie: „Für Leute mit Verstand gibt's nur zwei Möglichkeiten: Künstler oder Krimineller." Zusammen träumen sie vom großen Geld und tollen Abenteuern in dicken schnellen Schlitten. Zwei Eigensinnige, Ratlose, Verlorene, die da irritiert ins Leben stolpern und ziellos umherirren, nichts finden, bis sie unter die Räder kommen. Thomas Brasch erzählt anno 1983 davon in seinem existenzialistisch getönten Theaterstück „Mercedes“.
Lena Brasch, Jahrgang 1993, die Nichte von Thomas, nahm es als Klammer für ihre berührend eigenwillige Hommage auf den berühmten Onkel im Gedenken an dessen 80. Geburtstag.
In diese Klammer packt sie eine dritte Person (Jasna Fritzi Bauer), die sich mit signifikanten Bruchstücken aus Thomas Braschs Prosa und Lyrik kontrapunktisch unter die „Mercedes“-Szenen mischt. Die Bauer agiert da im ganz selbstverständlichen Wechsel als lakonische Kommentatorin oder eindringliche Interpretin, sozusagen als T.B. selbst. Oder auch als Lisa, der Figur der Schauspielerin aus dem Brasch-Film „Domino“, mit einem Ruf gellender Ausweglosigkeit „Das Neue geht nicht und das Alte auch nicht“.
Das gibt das Motto dieses Abends, der die Brasch-Zitate nicht einfach sammelt, sondern sie auf ganz persönliche Art neu komponiert. Ganz im Sinne Braschs: „Bin das Lied, bin nicht der Sänger“. So entfernt die Regisseurin den Sänger behutsam ein Stück weit von seinen Bindungen an das „graue Land“ DDR, überhaupt an diese deutsche Erde, in die er „hineingestapft“ wurde. Das wiederum lässt die poetische Wucht seiner „Lieder“ über wund geschlagene Schädel, über Wut, Ängste, Verlassenheit und Vergeblichkeit und über das „Loch, in dem wir, einer nach dem andern verschwinden“, umso freier strahlen – ins Universelle.
Und der bekannt heldische Widerständler gegen Herrschaft und Macht der Väter, der raue Popstar, der rockige Rebell und kriegerische Schmerzensmann tritt unversehens zurück. In den Nebel der Vergangenheiten, der beständig und bedeutungsvoll durch den Raum bläst.
Kammerspiel, nicht große Oper
In der Nachbarschaft, im Deutschen Theater, gibt es gleichfalls ein Thomas-Brasch-Programm: „Halts Maul Kassandra!“ (mehr dazu im Blog Nr. 503 vom 23. Dezember 2024). Opulent, wirkmächtig, politisch-gesellschaftliche Kontexte prononciert ausstellend. Breitformat. Große Oper. Im Gorki ist Kammerspiel, 70 Minuten; bescheiden, eher innig, sanft, wie herüber geweht.
Doch einmal wird es direkt politisch und persönlich. Da übernimmt Jasna Fritzi Bauer O-Ton Lena Brasch. Und erzählt die Anekdote, als sie neulich im Scheunenviertel hämisch beschmierte Stolpersteine wieder blank putzt, aber nicht mit der Bürste auf Knien wie einst die Juden die Wiener Ringstraße scheuerten, sondern aufrichtig mit Besenstiel.
Dass die drei Spieler starken Eindruck machen, versteht sich. Auch sängerisch. Einmal Tanita Tikaram mit „Twist in My Sobriety“. – In meiner Nüchternheit. Passt zum Ganzen. Seltsam cool und gegenwärtig. Dann Deutschmann und Eckert im Duett „Wicked Game“ von Chris Isaak, die bittersüße Ballade mit dem traurig tändelnden Sound der Gitarre. Und immer, immer wieder fährt die Bauer wie außer sich vor Verzweiflung schreiend dazwischen: Mit der Liedzeile „No, I don’t wanna fall in love again“. Nein, nein, nein – letzte Worte. Oder Kampfansage.
Gorki Theater Studio. 17. und 18. April. Im Moment sind leider alle Vorstellungen ausverkauft.
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Golden Twenties, die Reichshauptstadt ist elektrifiziert und feiert die Moderne, die Zukunft, die neueste Technik und die Glühbirne mit einem gigantischen Spektakel: „Berlin im Licht“. Eine Woche lang sind nachts alle Wahrzeichen illuminiert, flimmern erste Leuchtreklamen, tobt lichterloh das Entertainment. Bertolt Brecht und Kurt Weill, mit ihrer „Dreigroschenoper“ eben erst in den Starruhm katapultiert, bekamen sofort den lukrativen Auftrag der Osram-Werke für eine Hymne auf Elektropolis:„Das ist kein lauschiges Plätzchen, das ist eine ziemliche Stadt. Damit man auch alles gut sehen kann, da braucht man schon einige Watt. – Na wat denn, na wat denn, wat ist das für ne Stadt denn…“ Dichtet ironisch kalauernd B.B. Und Kurt gab dazu den schmissigen Ton.
Der Brecht-Weill-Hit „Berlin im Licht“ von 1928 passt prima als Auftakt für Guntbert Warns „Berlinical“. Sein Motto stiftet der Otto-Reutter-Klassiker von 1927: „Berlin is ja so groß“. Und so kippt denn Warns heiteren Gemüts das im Liedgut der letzten 100 Jahre gesammelt Kaltschnauzige, Grässliche und Geile, Sentimentale, Brutale, Witzige, das überhaupt Unkaputtbare der märkischen Location auszugsweise und mit Lust über die Revuetreppe.
Zum Ensemble, das dort auf der Treppe und davor sich tummelt, gehören Ivy Quainoo, Jaqueline Macauly, Hans-Werner Meyer, Jonathan Walz, Jakob Wenig und Instrumental-Allrounder Harry Ermer, der erstklassige Arrangeur. Die eingespielte Truppe, die Damen hübsch in Tüllwolken, die Herren gern hässlich genderfluid in Flatterhemdchen wie Nachtgespenster auf Stöckelschuhen, die Truppe weiß, wie gepflegt Show geht (abgesehen von der Kostümbildnerin). Man singt und bewegt sich gekonnt durchs Nummernprogramm der unterschiedlichsten Stimmungen und Stile von Schlager, Song, Chanson, Couplet, Rap und Pop bis Gassenhauer.
Lasst uns genießen!
Freilich, von „Berlinical“, schon gar nicht von Musical, kann dabei keine Rede sein. Dafür brauchts wenigstens eine kleine Geschichte mit Geschichtchen. Doch der Chef des bunten Abends (sowie des Hauses) trompetet es ja selbst im Programmheft: „Lasst uns genießen!“; die Umstände draußen nerven genug. Tja, da hat er nun auch wieder Recht. Mithin werden harsche Hauptstadt-Dissonanzen nicht weiter vertieft, sondern flugs mit dem Federfächer beiseite gewedelt.
Also Leichtigkeit! Und ab durch die Hitliste. Man geizt nicht mit Ohrwürmern von Spoliansky, Mackeben, Knef, Kreisler oder Lindenberg bis Peter Fox, Pigor & Eichhorn, Pannach & Kunert. Sogar Grebe ist dabei mit seinem Brandenburg-Bashing. Und Beppo Pohlmann mit „Kreuzberger Nächte“. Die sind bekanntlich lang, lang, lang. Aber dann! – Was dann? Na nüscht weiter: Applaus, Applaus!
Renaissance-Theater, bis zum 30. März. Hier geht’s zu den Karten.
Extra-Tipp: ABBA jetzt!
Was für ein Ritt durch alle musikalischen Genres. Ob Hip Hop, Madrigal, Flamenco oder Heavy Metal – das kabarettistisch-musikalische Wahnsinns-Trio Tilo Nest, Hanno Friedrich und Alexander Paeffgen, korrekt im Frack, kann alles machen: Es bleibt aber immer auch ABBA. Die Schweden-Truppe ist eben unkaputtbar. Und im Saal hälts kaum einen auf den Klappsitzen. Dancing Queen!! Ganz große Unterhaltung.
Berliner Ensemble, Wieder am 24. März. Karten direkt hier.
1. Kleines Theater Reisen ohne anzukommen
2. Berliner Ensemble Nicht nur Brecht
3. Theater am Frankfurter Tor Richtig getrickst
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3. Schlosspark Theater Krawall mit Blödköppen
1. Staatsballett Berlin Alles nur geträumt
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3. Yorck-Kinos Der Alb-Traum vom Ruhm
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3. Komödie Emotionen stören beim Ermitteln
1. Bar jeder Vernunft Das Leben ist schön – meistens
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3. Grips Vom Kreuz des Erwachsenwerdens
1. Schaubühne Vexierspiel mit Komödianten
2. Gorki „Ich bin das Lied“
3. Renaissance Theater Na wat denn, wat ist das für ne Stadt denn