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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 516

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

7. April 2025

Heute: 1. Kleines Theater – „Der Reisende“ / 2. Berliner Ensemble – „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“  / 3. Theater am Frankfurter Tor – „Oma Trick“ / Extra-Tipp: Schaubühne – „Professor Bernhardi“

1. Kleines Theater - Reisen ohne anzukommen

"Der Reisende" im Kleinen Theater © Joern Hartmann

Ein Mann fährt Zug, drei Tage lang; von Berlin nach Hamburg, von Hamburg zurück nach Berlin, von Berlin nach Dortmund, von Dortmund nach Aachen, von da nach Berlin, dann nach Dresden, wieder nach Berlin, nach Küstrin, zurück nach Berlin.
Warum? Er hat keine andere Möglichkeit, es gibt keinen sicheren Ort mehr für den jüdischen Kaufmann Otto Silbermann im November 1938 in Deutschland. Der Anschlag eines Juden auf den NS-Diplomaten Ernst vom Rath in Paris dient den Nazis als Vorwand, sich an den Juden zu rächen: Jüdische Geschäfte werden zerstört, jüdische Menschen zu Tausenden inhaftiert, in ihren Wohnungen zusammengeschlagen oder gleich umgebracht.

Otto Silbermann kann den Nazi-Schlägern gerade so entkommen und versucht verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen,
aber Freunde und Geschäftspartner wenden sich von ihm ab, verraten ihn. Innerhalb von drei Tagen verliert er alles.


Doppelt bemerkenswert


„Der Reisende“ ist ein Roman von Alexander Ulrich Boschwitz, dessen Entstehungsgeschichte es wert ist, erzählt zu werden, genau wie die Lebensgeschichte des Autors: Boschwitz floh 1935 mit seiner Mutter aus Deutschland, fand in England Zuflucht, wurde aber noch vor Kriegsausbruch als „Feind“ nach Australien verbannt. Auf der Rückreise wurde sein Flüchtlingsschiff von einem deutschen U.Boot torpediert und ging unter.

Der Roman „
Der Reisende“ erschien bereits in den dreißiger Jahren in Großbritannien und den USA. Das Manuskript gelangte auf verschlungenen Wegen nach Frankfurt am Main, ins Zentralarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, wurde dort vom Verleger Peter Graf aufgespürt und von ihm erstmalig 2018 verlegt. Boschwitz schrieb den Roman unmittelbar nach dem Pogrom, und die Schilderungen des damals gerade 23jährigen Autors, der da ja gar nicht mehr in Deutschland war, erstaunen und beeindrucken.

Mirko Böttcher ist es ebenfalls beeindruckend gelungen, den dreihundertseitigen Roman in knappe Spielszenen zu zerlegen und trotzdem die Geschichte wie aus einem Guss zu erzählen. Die vielen Menschen, die Otto Silbermann auf seiner Odyssee begegnen, werden durch drei Spieler verkörpert: Silke Buchholz, Matthias Rheinheimer und Michael Rothmann.


Geniale Bühnenlösung


Zu Beginn ist die Bühne leer; lediglich ca. drei Meter hohe graue Latten stehen verteilt im Raum. Die erweisen sich als Aluminiumschienen, die so miteinander verschraubt sind, dass sie wie eine Ziehharmonika auseinander- und zusammengeschoben werden können. Das Geräusch, wenn sie bewegt werden, verursacht Frösteln. Sie stehen für Zimmer, Zugabteile, Cafés, Grenzzäune, Gefängnisgitter. Durch Mark und Bein geht es, wenn mit einem Holzstock dagegen gehauen wird.
Manchmal markiert ein Spot einen Dialog. Der Plafond, der die Bühne nach hinten begrenzt, beleuchtet immer mal die Szene, blau, rot, gelb; das Licht vermittelt je nach Farbe Freundlichkeit, Gleichgültigkeit, Aggressivität. Akustisch nimmt man mehr unterschwellig als aktiv einen Sound wahr – Musik, Zug- Straßengeräusche? – irgendwie nicht zu fassen, aber körperlich spürbar.

Die Bühnenlösung ist so einfach wie genial, blitzschnell können neue Situationen geschaffen, damit der Handlung den jeweils entsprechenden Raum und dem durchweg großartigen Ensemble immer neue Spielmöglichkeiten gegeben werden.


Poesie inmitten von Schrecklichkeit


Der Otto Silbermann von
Johannes Laux ist ein freundlicher zurückhaltender Mann, der überhaupt nicht weiß, was ihm geschieht. Die Hoffnung, dass sich alles doch noch irgendwie zum Guten wendet, stirbt in ihm sehr langsam. Er bewegt sich zwischen den scharrenden Metallschienen erst mal ganz selbstbewusst. Aber immer mehr engen sie ihn ein, stolpert er durch schmaler werdende Öffnungen, versperren die Schienen ihm schließlich jeden Weg. Sein Koffer – ein heutiges Hartschalenmodell in Blau, in dem sich sein ganzes Geld und damit seine einzige Überlebenschance befindet, ist ihm dabei wie ein Klotz am Bein und wird ihm am Ende sowieso gestohlen.

Aber es gibt auch Menschlichkeit und Nähe während der Odysee des Otto Silbermann und sogar fast eine Liebesszene, wenn plötzlich aus einer der Aluminumschienen ein rotes Seidentuch flattert und Otto und die Frau, der er sich anvertraut, umfängt.

Alle vier Darsteller sind in kleinkariert gemusterte Hosen, weiße Hemden mit Manschettenknöpfen und blassfarbene Strickwesten gekleidet (Bühne und Kostüme: Flavia Schwedler); an die Mode der dreißiger Jahre angelehnt und gleichzeitig modern. Diese Uniformierung hebt die Geschlechter der jeweils agierenden Figuren auf und unterstützt die Inszenierung klug darin, uns die Zeitlosigkeit und Aktualität von Flüchtlingsschicksalen vor Augen zu führen – und das ganz ohne den berühmten Zeigefinger.

Kleines Theater, 9., 10., 11. April und 3. Mai. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Berliner Ensemble - Nicht nur Brecht

"Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" © Birgit Hupfeld

Endlich wieder ein Brecht-Stück im Stammhaus des Dichters am Schiffbauerdamm.
Und dazu eins, das wahrlich gut in unsere Zeit passt, in eine Zeit, in der die Frage nach der Umverteilung von Reichtum immer drängender wird.

Genauso undurchsichtig, wie für viele Menschen die Vorgänge an der Börse sind, sind die Kämpfe, die im Stück an den Chicagoer Fleischhöfen ausgetragen werden. Klar wird: Der Fleischkönig Mauler agiert so geschickt, dass am Ende immer er die guten Geschäfte macht. Skrupellos einerseits, aber nicht ohne Gefühle, von Schauder gepackt bei der Erinnerung an die Schlachtung des Ochsens, die er kürzlich mit angesehen hat.


Hier herrscht Frau Mauler


In der Inszenierung der „Heiligen Johanna“ von Dušan David Pařízek ist es eine Frau Mauler, die den Fleischmarkt beherrscht. Und Stefanie Reinsperger als Frau Mauler beherrscht die Bühne. Scheut nicht vor großen Auftritten zurück – ob in wallendem rotem Kleid mit unendlich langer Schleppe oder in fleischfarbenem Body – und präsentiert ihre Mauler zwischen brutalem Geschäftssinn und widerlich anmutender Weinerlichkeit.

Ganz hat hat der Regisseur Brecht und seiner Botschaft offenbar nicht vertraut. In der Pause der zweieinhalbstündigen Aufführung fesselt Stefanie Reinsperger die Zuschauer, die der Aufforderung sitzen zu bleiben, folgen, weniger mit dem Text (ein Manifest zum Lob des Libertarismus der amerikanischen Philosophin Ayn Rands) als mit der Art der Verkündung desselben: nachdrücklich und mit vollem körperlichen Einsatz.

Die Bühne wird von einem Würfel eingenommen, dessen Boden und die grauweißen Wände aus quadratischen Elementen bestehen, erinnernd an Laminat, aber auch an die gekachelten Wände einer Schlachtfabrik.
Der Riesenwürfel ist nach vorn offen und leicht angekippt. Sodass das Laufen, besonders auf High Heels nicht ganz einfach ist, man aber auch wunderbar auf dem Bauch nach vorn schlittern kann. Schattenspiele und Projektionen, die von den Spielern selbst vom Bühnenrand aus gesteuert werden, illustrieren und kommentieren.

Die ausufernde Personage, die Brecht neben Johanna und Mauler vorsah, ist hier reduziert auf drei Schauspieler: Nina Bruns, Marc Oliver Schulze und Amelie Wilberg. Ihre rasanten Rollen- und Kostümwechsel lassen die einzelnen Figuren plastisch werden und trösten über den belehrenden Grundton der Inszenierung hinweg. Die Schauspieler sind einfach zu gut.

Aller Präsenz von Stefanie Reinsperger zum Trotz ist Kathleen Morgeneyer das Zentrum der Aufführung. Ihre schmale Johanna wirk einerseits durchscheinend, fast ätherisch und ist gleichzeitig von einer unerbittlichen Konsequenz. Die naive Heilsarmee-Soldatin, die zu Beginn noch den Armen selbst eine Mitschuld an ihrem Unglück gibt, erkennt am Ende, dass das ganze kapitalistische System nur ein Schaukelbrett ist, das lediglich funktioniert, wenn die einen oben sitzen und die anderen unten bleiben.

Berliner Ensemble, 22. und 23. April, 4. und 5. Mai. Karten direkt hier.


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3. Theater am Frankfurter Tor - Richtig getrickst

"Oma Trick" im Theater am Frankfurter Tor © DERDEHMEL/Urbschat

Waren Sie schon mal im Theater am Frankfurter Tor? Für mich war es das erste Mal, und ich war überrascht: Als ich das kleine Foyer betrat, begrüßte mich ein sehr freundlicher Herr und druckte mir meine Karten aus. Hinter der Bar stand Johannes Hallervorden in Jeans und T-Shirt, der Chef des Hause und schenkte die Getränke aus. Aber Moment mal – sollte der nicht heute Abend den Partner von Brigitte Grothum spielen?

Es war noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Beginn der Vorstellung. Trotzdem war ich mit meiner Begleitung fast zu spät, denn der Saal – es ist Freie Platzwahl – war schon bis auf wenige Plätze ganz hinten gefüllt.

Die Geschichte ist schnell erzählt.
Eine alte Dame, seit Jahren schon im Seniorenheim, soll überrumpelt werden und ihr ihr Haus abgeknöpft werden. Der Sohn schickt dazu einen seiner Mitarbeiter, der sich als der Enkel ausgibt. Aber wie der Titel der Komödie von Chales Lewinsky „Oma Trick“ – ahnen lässt, ist es hier die Oma, die trickst und die Fäden in der Hand behält.


Die Grothum ist der Star


Es ist eine schöne Rolle für
Brigitte Grothum, die, genau wie ihre Figur, mehr als einmal in dieser kurzweiligen Inszenierung von Irene Christ überrascht. Stützt sie sich zu Beginn noch auf ihren Rollator, so werden ihre Bewegungen, je länger der Spaß dauert, immer flotter, und am Ende tanzt sie fast. Den hässlichen wollenen Deckenumhang wirft sie genau so ab wie das komische Kopftuch und den Kinderrucksack mit Ohren, den sie vor der Brust trägt, als sie die Bühne betritt. Zum Vorschein kommen ein schickes lila Oberteil, mit Glitzereffekt und ein Pagenkopf, unter dessen Frisur die Augen nur so blitzen vor Vergnügen.

Johannes Hallervorden hat tatsächlich kurz vor acht Jeans und T-Shirt mit dem Kostüm vertauscht – ein langweiliger brauner Anzug. Sein falscher Enkel ist so bedauerns- wie liebenswert. Er wird von der „Oma“ gnadenlos dahin geschoben, wo sie ihn haben will, nicht zum Schlechtesten für ihn... Die Dialoge sind flott geschrieben und müssen auch so gesprochen werden. Und wieder kann man nur stauen, wie Brigitte Grothum diese Menge an Text bewältigt.
Wenn der fiese
Sohn schließlich ordentlich aufs Kreuz gelegt worden ist und sich die zwei sympathischen Betrüger auf der griechischen Insel verabreden, klingen die nicht nur die Cocktailgläser, und das Publikum ist begeistert.

Wenn Sie also einen ebenso vergnüglichen wie unterhaltsamen Abend erleben wollen, gehen Sie ins Theater am Frankfurter Tor, lassen Sie sich vom vielseitigen Spielplan überraschen. Aber seien Sie rechtzeitig vor Beginn der Vorstellung da!

Theater am Frankfurter Tor. Hier geht’s zu den Karten.

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Extra-Tipp:
Jörg Hartmann ist zurück an der
Schaubühne und mit ihm „Professor Bernhardi“, die großartige Inszenierung von Thomas Ostermeier aus dem Jahr 2017. Mein Kollege Reinhard Wengierek schrieb damals: „… Zu erleben ist das starke Stück eines politischen Menschentheaters, das im Politischen stets den Menschen sieht, den (in allen Zeiten) daran ein- und angebunden Einzelnen…“ (mehr dazu im Blog Nr. 198 vom 16. Januar 2017).
 
Schaubühne, bis 30. April. Hier geht’s zu den Karten.

 

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