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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 503

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

23. Dezember 2024

HEUTE: 1. Deutsches Theater – „Halts Maul, Kassandra“ / 2. Berliner Ensemble – „Biedermann und die Brandstifter“ / 3. Vagantenbühne – „Warten auf‘n Bus“ – / Extra-Tipp „Bühnenbeschimpfung“ im Gorki /  Und: Grüße zum Jahresende

1. Deutsches Theater - Links und rechts der Mauern

"Halt's Maul, Kassandra!" © Thomas Aurin

Wo ich bin will ich nicht bleiben, aber die ich liebe will ich nicht verlassen, aber die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe da will ich nicht hin: Bleiben will ich wo ich nie gewesen bin.“

Harte Worte, herzzerreißend; alles sagend über Thomas Brasch. Er selbst hat sie aus sich herausgepresst. Als Credo seines Daseins; damals im geteilten deutschen Land und in der bis heute gespaltenen Welt.

Thomas Brasch (1945–2011), ein Kind kommunismusgläubiger Emigranten. Der Vater, sein gestrenger Erzieher, stieg auf in die Partei-Elite. Der Sohn, der nichts als Dichter werden will, reibt sich, eingemauert von Verboten, wund am Vater, am Staat, an Wirklichkeiten, die nicht werden wollen wie geträumt. Die Fahnen klirren in eisigem Wind. Die Folter seines Lebens.

Sie spricht aus allen und in allen seinen Werken: Den hitzigen, bitterkalten, sarkastisch zugespitzten Dramen, den so qualvoll schönen Gedichten. Noch einmal füllen Braschs wuchtige, auch seelenzarte Worte jetzt das Deutsche Theater, das mit seinem Namen und seiner Geschichte so gut passt auf diesen Denker, Dissidenten, Anarchisten, Weltenwechsler, Schmerzensmann.


Revue mit Musik, Film, Witz und Pathos


Halts Maul, Kassandra!“ ist das Motto einer von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner komponierten und inszenierten Thomas-Brasch-Hommage, die mit spielerisch leichter Hand, mit Witz und der gehörigen Portion Pathos Brasch-Texte – einer literarisch-politischen Revue gemäß – verwirbelt, gelegentlich Video-Dokumentenschnipsel einstreut. Und musikalisch kontrapunktiert ist (Jan Stolterfoht, Tilmann Dehnhard) mit Klassischem, Jazzigem oder Rio Reiser: „Macht kaputt was euch kaputt macht“.

So wird ein schwieriges Künstlerleben (Dramatiker, Poet, Filmemacher, Shakespeare-Übersetzer) auch durch das großartige Ensemble
Mareike Beykirch, Anja Schneider, Felix Goeser, Jürgen Kuttner, Benjamin Lillie, Peter René Lüdicke, Jörg Pose eindrucksvoll skizziert. Wobei – kunstvolles Arrangement – im Historischen Gegenwärtiges erregend aufscheint. Die Vergangenheit ist nicht vergangen.


Ein kaputter Engel als elender Geist der DDR


Dazu eine frisch frei erfundene Szene mit einem vier Jahrzehnte alten Text aus der Brasch-Farce „Herr Geiler“. Da ruft Jörg Pose in der grotesken Rolle der DDR als gespenstisch Untote mit gebrochen vorwurfsvoller Stimme: „Erkennst du mich noch immer nicht. Ich bin die DDR. Wieder hast du die Tür vor mir verschlossen und wieder wird ein Schlag von mir sie öffnen. Sprengt die Tür. Wieder hast du die Fenster vor mir verriegelt, damit du dich im Dämmerlicht von der Gegenwart ausschließen und ungestört einschlafen kannst.“ Der Schauspieler, mit seinem vom Alter zerfurchten nackten Oberkörper, trägt schwer an Riesenflügeln auf dem Rücken. Ein elender Engel, immer wieder versucht, aufzusteigen. Vergeblich. Keuchend knallt er kaputt zurück auf steinharte Erde.


Nicht aufgeben. Weitermachen wie Sisyphus


Und was ist mit Kassandras Maul? – Ein Brasch-Zitat aus dem Texte-Mix „Kargo“, 1977, das gegen Zukunftsängste schießt, das unermüdlich „Weitermachen“ einfordert, so aussichtslos es auch scheinen mag. „Wie Sisyphus“, kommentiert Kuttner als Moderator, der unterhaltsam pointiert führt durch Braschs Texte und Welten und deutsch-deutsche Geschichte(n).

Brasch, ein Hellsichtiger und Wahnsinniger, ein Wilder und Furchtsamer, Feinsinnniger, ein Rocker, Frauenheld, Verschwender, dieser Kerl fand nirgends ein Zuhause, weder links noch rechts der Mauer. Höchstens obendrauf. Oder in Shakespeares Schädel. Als kongenialer Übersetzer fand er sowohl betörend innige als auch beklemmend kriegerische Worte. Sah sich als „Foul“. Nannte das notorisch Närrische im Menschen „irrewirr“.

Endlich ein großer starker Nachdenk-Abend im DT.

Deutschs Theater, 5. und 8. Januar. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Vaganten - Wartezimmer Haltestelle

"Warten auf'n Bus" in der Vagantenbühne © Niels Wehr

In der Polytechnischen Oberschule „Juri Gagarin“ saßen sie zusammen in einer Klasse: Ralle und Hannes (Paul Walther, Andreas Klopp), die damals „schärfsten Kerle in der Darkness-Ecke aufm Schulhof“. Viele Jahre später sitzen sie an der Bushaltestelle von Briesenow, tief im Brandenburgischen; der eine einst Tagebauingenieur, der andere Agrarwissenschaftler, beide geschieden, abgewickelt, langzeitarbeitslos.

Der Haltepunkt Briesenow ist, bei passablem Wetter, ihr Wohnzimmer – besser kostengünstig an der frischen Luft als im Kneipendunst. Und so ziehen sie, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, auf der Holzbank im ÖPNV-Häuschen los über Gott und die Welt. Reden an gegen Einsamkeit, Leere, Langeweile, gegen ihr Schicksal und die „neuen“ Umstände. Sie zanken und sie trösten sich, kloppen sich mit einem fiesen Dorf-Sheriff und mit streunenden Neonazis, die Jagd machen auf Ausländer und Linksidioten. Außerdem warten sie auf den Bus.

Warten auf’n Bus“ ist denn auch der Titel dieser tragisch getönten Komödie von Oliver Bukowski, eine zusammen mit Sophie Decker kräftig saftig fürs Theater gefasste Adaption der so erfolgreichen gleichnamigen RBB-TV-Serie.


Eine Göttin stoppt den Bus


Der Verweis auf Wartestand klingt nicht ganz zufällig wie „Warten auf Godot“, aber nur ein bisschen. Denn eigentlich warten die leicht derangierten Frustbeulen auf ihre Göttin: Eine erfrischend taffe Busfahrerin (Melissa Anna Schmidt), gerade entliebt und also alleinstehend, was die beiden Zausel in Konkurrenz zum Anbaggern treibt – mehr oder weniger geschickt. Sehr komisch. Sehr rührend.

Die schicke Kathrin stoppt nämlich gelegentlich ihren oft menschenleeren Überlandbus für ein Päuschen. Und für den Austausch von Gedanken sowie Lebensweisheiten. Zu mehr kommt es am Ende zwar nicht, schade. Doch freundschaftliche Bande wenigstens sind geknüpft.

Christine Hofer hat das Kammerspiel mit den nicht eben zimperlichen Dialogen zupackend inszeniert. Ohne Scheu vor Krach und Turbulenz; die schönen zarten Momente sind eher rar. Dafür wird flott gesungen und Musike gemacht vom vorbeistiefelnden Britzke mit der Klampfe unterm Arm (Karsten Zinser, der auch die verrückte Nummer mit dem Ortspolizisten abzieht). Britzke ist Westler („Oooch, Kreuzberg!!). Da guckten die permanent um Selbstbehauptung ringenden Ossis erst mal beese. Doch das gibt sich. Zum Happyend wagen zur Begeisterung des Publikums Ralle und Hannes ein scheues Tänzchen. Und alle Vier liegen sich – freilich nur kurz und die Träne weggesteckt – in den Armen.

Vagantenbühne, bis 21. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Berliner Ensemble - Puppenlustig

"Biedermann und die Brandstifter" im Berliner Ensemble © Jörg Brüggemann

Der Biedermanns klein Häuschen ist ein Kasperletheater, ingeniös an die Rampe gesetzt von Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh. Es spielt die eine Hauptrolle in Fritzi Wartenbergs Inszenierung von Max Frischs Lehrstück „Biedermann und die Brandstifter“. Die beiden anderen Hauptrollen, das Ehepaar Biedermann, glänzen gleichfalls – mit Kathrin Wehlisch (Gottfried B.) und Pauline Knof (Babette B.). Als zwei tolle grelle Püppchen, passend in jede Rheinische Jecken-Parade.

Erstaunlich, wie die beiden bravourösen Schauspielerinnen Gliederpuppen-Mechanik und -Mimik vorführen zum Gaudi des Publikums. Und noch dazu das tuntige Dienstmädchen Anna mit den „kilometerlangen“ Beinen auf Riesenhacken-Pumps (
Maximilian Diehle).


Notorische Problemverweigerung


Doch worum geht es eigentlich im Stück? Oberspießer Gottfried, unentwegt dicke Zigarren paffend, öffnet sein Puppenstuben-Heim einem hereinstreunenden Gangster-Duo (Max Gindorff, Maeve Matelka). Das macht sich unverschämt breit, um in aller Seelenruhe das Abfackeln von Biedermanns Gehäuse vorzubereiten. Doch Herr B. lässt es entgegen aller Vernunft und Selbstachtung bereitwillig geschehen; hilft beim Legen der Zündschnüre, lädt die Brandstifter ein zu Speis und Trank. Aus Feigheit zum Widerstand gegen die drohende Katastrophe. Aus verlogener Großzügigkeit (und schlechtem Gewissen) des Wohlhabenden gegenüber Hungerleidern, selbst wenn sie Kriminelle sind. – Es ist irre: Immerzu steckt der Problemverweigerer seinen unheimlichen Holzkopf in den Sand. Bloß keine Ruhestörung. Wird schon nicht so schlimm…

Max Frisch (1911–1991) formte das Stück 1958 aus einem Hörspiel für die Bühne, sein Durchbruch am Theater. „Wer die Verwandlung scheut, mehr als das Unheil, was kann er tun wider das Unheil?“ Das ist die brennende Frage seines „Lehrstücks ohne Lehre“.

Das „ohne Lehre“ nahm die Regie ungebührlich ernst und konzentrierte ihre üppig sprudelnde Fantasie aufs pittoreske Ausstellen eines skurrilen Figurenpanoptikums. Da geht – große Klasse – wie verrückt die Post ab. Fragt sich nur: Wohin? – Nicht etwa ins Absurde, Abgründige, ins katastrophal Menschheitsdumme. Sondern ins Harmlose. Obwohl es am Ende ganz schlimm wird, bleibt alles puppenlustig. Dass da zum feurigen Finale ein läppisch rotes Tuch wedelt, stört nicht die Bespaßung.

Berliner Ensemble, 2. Januar und 3. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


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Extra-Tipp: Die Gorki-Show „Bühnenbeschimpfung“ (ausgezeichnet als Stück des Jahres 2023) liefert eine rücksichtslos sarkastische, unverschämt zupackende Auflistung so ziemlich sämtlicher, gegenwärtig kritisch diskutierter Probleme der Theatermacherei. Gegossen in geschliffene Monologe. Motto: „Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr; das Theater“. Der sensationelle Abend glänzt mit spektakulärer Virtuosität. Den organisierten Akt nervenden Mitmachtheaters kann man wegstecken. Denn alles in allem pocht da ein großes Herz fürs Theater. Toll! – Und besonders bedenkenswert gerade jetzt, da der staatliche Rotstift Etas zusammenstreicht (mehr dazu im Blog Nr. 425 vom 31. Januar 2023).

Maxim Gorki Theater, Wiederaufnahme am 30. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.


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DAS UNERMÜDLICH NEUGIERIGE KRITIKER-KOLLEKTIV
wünscht seiner verehrten Leserschaft
Frohe Weihnachten, reichlich Theaterglück und alles Gute zum Neuen Jahr. – Dazu ein forsch vor Verengung oder Abschnürung warnender Kalenderspruch. Von Schauspielstar Edgar Selge:
Wenn man sich darauf einigen könnte, wo die Grenzen des Theaters liegen, bräuchte man keins.“

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