HEUTE: 1. Berliner Ensemble – „Der Theatermacher“ / 2. Volksbühne – „Und jetzt?“ / 3. Maxim Gorki Theater – „Bühnenbeschimpfung“
Staatsschauspieler Bruscon auf großer „Welttournee“. Mit seiner Komödie „Das Rad der Geschichte“ („Unter uns, ich bin ein Klassiker“) und mit Gattin, Tochter, Sohn macht er Station im kleinen Utzbach. Sein „Klassiker“ enthält „alle bislang vorhandenen Komödien der Welt“. Und ist gespickt mit Auftritten fast aller Größen von Cäsar, Napoleon, Goethe bis Hitler.
Jetzt also im Kaff Utzbach. Im elend versifften Gasthof die Vorbereitungen für den familiären Großauftritt. Bruscon, ältlich und kränklich, tobt wie immer: Gegen die Dummheit der Provinz („Kunstfalle“), den Dilettantismus überall, die Schauspieler allgemein („sprechen, dass es einer Sau graust“), die Frauen auf der Bühne („Schwerfälligkeitsmenschen“, „Theaterhemmschuhe“).
Ein sich für genial haltender Schmierant im Clinch mit der Macht der Schmiere sowie der Rücksichtslosigkeit einer Welt voller „Niederträchtigkeits-Fanatiker“. Ein gekränkter Irrer, der als „Gottesgeschenk“ auftritt und sich immer wieder aus Verachtung und Hass schwitzend rettet in breitbeinige Selbstermächtigung, in tyrannischen Größenwahn.
Krachende Wortgewitter, untröstliches Gewinsel
Stefanie Reinsperger packt mit schier unglaublicher Kraft diesen widerlichen Bluthochdruck-Macker aus Thomas Bernhards galliger Tragikomödie „Der Theatermacher“ (Uraufführung Salzburger Festspiele 1985 durch Claus Peymann). Dessen monologischer Text besteht vornehmlich aus krachenden Wortgewittern, durchsetzt mit Blitzen ätzenden Witzes – und gelegentlich untröstlichem Gewinsel.
Regisseur Oliver Reese inszenierte die abgrundtief verzweifelte Hassliebe-Erklärung an das Theater gekonnt quasi als Zweistunden-Solo für die Reinsperger und ihre Kunst, das unentwegt Steigende und Stürzende im Rasen und Geifern ihrer psychopathischen Figur wahrlich atemberaubend zu spielen. Diese Besetzung ist kein Gender-Gag. Sie hat vielmehr zu tun mit der überbordenden Spiel-Lust, ja Spiel-Gier dieser singulären Begabung. Mit ihrem gewaltigen stimmlichen und physischen Repertoire, mit dem sie eine jegliche Kreatur erschafft. Jeder Intendant, jeder Regisseur muss einfach solch ein Juwel im Ensemble glänzen lassen.
Freilich, dass diesem so brutal herrischen Herrchen, diesem rasenden Widerling bei aller grotesk greinenden Selbstverklärung und zynischen Weltverfluchung im Dreckstall zu Utzbach (Bühne: Hansjörg Hartung) auch melancholische Momente schmerzlicher Verlorenheit kommen („wir sind todkrank und tun so, als lebten wir ewig“), das drückt der von Reese befeuerte expressive Hochdruckbetrieb der Reinsperger eher beiseite.
Verdruckster Familienwiderstand
Dafür umso deutlicher das grundsätzliche Unglücklichsein im Bruscon-Kosmos der sadistisch gedemütigten Familie, diesen typisch Bernhardschen Schweigefiguren. Obwohl bloß als Stichwortgeber in Kurzszenen angetreten, zeigen Frau Bruscon (Christine Schönfeld) und die Kinder Sarah und Ferruccio (Dana Herfurth, Adrian Grünwald) verschämt ihre Wunden. Das ist so erschütternd wie die zaghaften Versuche verdrucksten Widerstands gegen die rhetorische, auch handgreifliche Übergriffigkeit des kindisch dämonischen Vaters.
Die eine Pointe dieses Familientheaters voll Ekel, Not und Vergeblichkeit ist das mit staunenden, zuweilen gar mitleidigen Blicken hilflose Beiseitestehen des Utzbacher Kneipenwirts Wolfgang Michael. – Die andere: Zum Schluss kurz vorm Vorhangfall, alles liegt darnieder nach einem die Bühne überflutenden Gewitterguss, rappelt Bruscon sich auf und will schon wieder aufs Neue… – Da geht das Licht aus.
Berliner Ensemble, 12. März. Hier geht’s zu den Karten.
***
Es war einmal: Das Arbeitertheater des VEB PCK, des Petrolchemischen Kombinats Schwedt. Die ambitionierte Laientruppe bastelt Mitte der 1960er an einem Stück über neuartige Produktions- und Leitungsprozesse – damals die Einführung von Kybernetik, Informatik, automatischer Steuerung. Um die trockene Materie poetisch, anders gesagt, menschelnd aufzupeppen, wurde sie mit Anleihen aus Shakespeares‘ „Sommernachtstraum“ verbandelt. Sofort interessierten sich hauptstädtische Profis für das Projekt namens „Horizonte“. Der damalige Volksbühnen-Oberspielleiter Benno Besson (ab 1974 Intendant) unterstützte es derart, dass es zum Gastspiel bei den zentralen Arbeiterfestspielen eine Goldmedaille gab. Daraufhin adaptierte Heiner Müller den Erfolg fürs Repertoire der Volksbühne; leider erfolglos.
Volkstheater kontra Heiner Müller?
Ergibt sich die Frage: Steht da plebejisch-propagandistisches Arbeiter-Volkstheater gegen artifizielle Müllersche Konfliktdarstellung oder was? – Ein spannender Stoff aus der DDR-Theater- und Volksbühnengeschichte. Der gegenwärtige Intendant René Pollesch hat ihn pfiffigerweise hervorgekramt als Folie für sein neues Stück „Und jetzt?“
Kunterbuntes Stichwort-Theater
Und nun? Die Folie muss man sich selber zusammen googeln. Denn sie verschwindet unter einem geplapperten Assoziationskonfetti nach Stichworten wie „Situationisten“, „Denken“, „Pause“, „Kunst“, „Ideologie“, „Propaganda“, „Selbstregulierung“, „Zukunftslust“. Äußerst bunte Mischung; Hilfestellung für hinterher gibt die Literaturliste kleingedruckt auf dem Programmzettel. Mit Autoren wie Dietrich Dietrichsen, Hans Thies-Lehmann und Helmut Lethen, Stanislaw Lem, Eva Renvert oder Gerhard Winterlich. Reichlich Bibliotheksarbeit.
Eine Quintessenz zu filtern bleibt Hausaufgabe für Publikum. Während der Vorstellung ließe sich mit gutem Willen eine heraustüfteln: Das Dasein ist absurd und dementsprechend alle Kunst. Daneben der hübsche Satz: „Etwas Sinnloses zu bereden macht Sinn.“ Oder die Frage: „Was ist das für ein Leben ohne ein Denken des größtmöglichen Widerspruchs, so dass es einen zerreißt?“
Mal ganz abgesehen vom Stichwort Schwedt! Fährt doch das PCK ohne Rosneft-Öl gegenwärtig nur mit höchstens halber Kraft und Kurzarbeit. Auch ein Thema, und zwar ein brennendes. Doch davon nichts.
Sensationelles Komiker-Theater
Stattdessen das erstaunliche Paradox: Nämlich 80 Minuten non stop große Schauspielkunst mit Martin Wuttke und Milan Peschel (und nebenbei Franz Beil). Vor allem das sensationelle Komiker-Duo Peschel-Wuttke verkocht Polleschs hauchdünnes Textbüchlein mit seinen hochmögenden, freilich bloß vagen Andeutungen, Flapsigkeiten und Kalauern zum atemlos rasenden Slapstick-Zirkus. Sieht man derart perfekt artistisch zurzeit nirgendwo (in Berlin). Ein Abend nur für zwei tolle Könner ihrer Kunst. Zwei große Clowns voll praller Lebenslust, gespickt mit Volkes Weisheit – dabei nicht ohne fein melancholische Momente des Innehaltens, gar der Verlorenheit. Alles sinnlos? Mit diesen beiden eher nicht! Was jetzt? Genau das!
Volksbühne, 12. und 28. März. Hier geht’s zu den Karten.
***
Wie ärgerlich! Nein, nicht etwa die brutal-sarkastische, unverschämt zupackende, in geschliffene Monologe gegossene Auflistung so ziemlich sämtlicher, gegenwärtig kritisch diskutierter Probleme der Theatermacherei im ersten Teil der Veranstaltung – Überschrift: „Bühnenbeschimpfung. Liebe ich es nicht mehr oder Liebe ich es zu sehr?“ (Text: Sivan Ben Yishai, aus dem Englischen von Maren Kames).
Ärgerlich vielmehr ist der zweite Teil, der das Publikum betrifft.
Freilich, vor Jahrzehnten schon machte Peter Handke mit seiner schockierenden „Publikumsbeschimpfung“ (in Frankfurt von Claus Peymann inszeniert) den Anfang. Damals ging es um Fundamentalkritik an einem auf passives Konsumieren erpichtes Publikum (Brecht brachte es seinerzeit auf die Kurzformel „Glotzt nicht so romantisch!“).
Publikumsgejohle
Jetzt im Gorki, ein Halbjahrhundert später, versucht man nun wie in der guten alten Schule einen Dialog mit dem Publikum. Und arbeitet mit Fragen. Als Ja-Antwort gilt Erheben der sich betroffen Fühlenden von den Plätzen. Also: Wer seid ihr (Schüler, Student, Angestellter etc.); wie viel verdient ihr monatlich (600, 800, 1000, 5000, mehr als 10.000 Euro); was wollt ihr vom Theater (Politisches, Unterhaltsames, Dramatisches, Komödiantisches etc.); wie ist eure sexuelle Orientierung; wie sehr oder wie wenig fühlt ihr euch angesprochen vom Theater? ‑ Sozusagen eine Publikumsanalyse. Mit viel Gejohle und Gejuxe zwischendurch. Glaubhaft ist da überhaupt nichts. Aber man macht bei der Alberei überraschend eifrig mit. Dennoch: Es bleibt primitives Mitmachtheater. – Es sei denn: man begreift die Peinlichkeit als Kritik der Manipulierbarkeit des Publikums. Ärgerlich obendrein, dass der Zirkus eine gute Dreiviertelstunde lang breitgetreten wird. Und so sehr schade, dass sie den ganzen Abend letztlich kaputt haut.
Erst das tolle Theater, dann der Absturz
Denn die erste knappe Stunde der Show ist glanzvolles, geistreiches, auch abgründig komisches, aber immerzu erhellendes Performance-Theater. Die reine Theaterlust, obgleich oder weil es den eigenen Betrieb so aggressiv in die Mangel nimmt.
Mit Eloquenz und Schärfe werden spielerisch hinreißend die Strukturen des Theaters, seine Arbeits- und Produktionsbedingungen, das Ausbeuterische und Selbstausbeuterische, werden die glücklichen oder tragischen Verhältnisse zwischen Intendant, Autor, Schauspieler, Regisseur sowie die Dramen der Konkurrenzen, Egomanien und Selbstverliebtheiten durchexerziert (Regie: Sebastian Nübling).
Spektakuläre Virtuosität
Aysima Ergün, Lindy Larsson, Virina Popov und Mehmet Yilmaz in hautengen Silberglitzerhosen schleudern mit artistischem Körpereinsatz und perfekter Präzision ihre Monologe von der Rampe. Spektakuläre Virtuosität. Was für ein grell funkelndes, tiefschwarz gerahmtes Bild einer dramatischen Gefühlsmischung des extrem gemischten Personals in der Wahnsinnskiste Schaubude, die eher einer Schlangengrube als dem Paradies gleicht. Hingabe, Hass, Wut, Begehren, Verdammen, Glück und Verzweiflung. Das ganze Programm. Immer volle Kannen – schluckweise oder auf ex. Tolles Theater, wie wir es lieben – mithin auch eine Antwort auf die Gretchenfrage im Titel „nicht mehr“ oder „zu sehr“. Und gerade deshalb umso ärgerlicher der elende Absturz des Abends, sein banales Austrudeln. Statt mit gleicher intellektueller und künstlerischer Kraft die Brücke ins Publikum zu bauen.
Die Causa Gorki auf offener Bühne
Delikates Detail am Rande zum virulenten Thema Intendanten-Allmacht und Transparenz: Drangen doch bereits im Sommer letzten Jahres Beschwerden über Machtmissbrauch der Intendantin des Hauses nach draußen. Mit unredlich politischer Unterstützung wurden sie flugs unter den Teppich gekehrt. Erst jetzt hatte Shermin Langhoff den Mut und eine gewisse Größe, immerhin auf ihrer Bühne die „Causa Gorki“ öffentlich zu machen.
Maxim Gorki Theater, 3. und 7. März. Hier geht’s zu den Karten.
***
4. Extra-Tipp Renaissance Theater: Wiederaufnahme „Spatz und Engel. Die Geschichte der Freundschaft zwischen Edith Piaf und Marlene Dietrich“ – Ein Stück Startheater mit Musik. Und Anika Mauer, Ralph Morgenstern, Vasiliki Roussi, Guntbert Warns. Regie: Torsten Fischer. (siehe Kulturvolk-Blog Nr. 305 vom 1. Juli 2019).
Renaissance-Theater, 3. und 4. Februar, 19.30 Uhr, 5. Februar, 18 Uhr. Hier geht’s zu den Karten.
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte