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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 496

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

4. November 2024

Heute: 1. Vagantenbühne – „Nathan“ / 2. Berliner Ensemble – „Der nackte Wahnsinn“ / 3. Atze Musiktheater – „Das Huhn lügt“

1. Vaganten - Nathan abgespeckt und aufgepeppt

"Nathan" in der Vagantenbühne © Niels Wehr

„Nathan der Weise“, Gotthold Ephraim Lessing – jeder und jede von uns ist damit im Deutschunterricht vertraut gemacht oder gequält worden. Je nachdem, wie es den Lehrern gelang, den Text zu vermitteln und damit die Botschaft der berühmten Ringparabel, dass alle Religionen gleichviel wert sind und keine über der anderen steht.

Möglicherweise hatten die vier Spieler und das Regieteam um Max Radestock allesamt Deutschlehrer, denen das oben beschriebene Ziel nicht gelang. Die Aufführung vertraut dem Lessingschen Text so wenig, dass immer wieder – zugegeben kluge – Gedanken von berühmten und weniger berühmten Menschen hinzugefügt und nachdrücklich von der Bühne herunter verkündet werden.

Das geht gleich am Anfang los: Die vier schwarz gekleideten Spieler (Victoria Findlay, Anja Kunzmann, Julian Trostorf, Emma Zeisberger) bauen sich an der Rampe auf und erklären uns ausführlich und abwechselnd, worum es in den nächsten 90 Minuten gehen wird. Nathan (ohne denWeisen), Stichwort Aufklärung, Stichwort Toleranz. Vier Stufen, Erlaubnis, Koexistenz, Respekt Wertschätzung. Okay, das haben wir jetzt begriffen und hoffen, dass es nun mal losgeht mit Lessing.

Die Fassung, die der Regisseur und die Dramaturgin Fabienne Dürr aus dem fünfaktigen Stück klug zusammengestrichen haben, vermittelt das Wesentliche. Dabei finden sie einen frischen witzigen Umgang mit der Ringparabel, der hier natürlich nicht verraten wird.

Alle neun bei Lessing notierten Personen werden von den Vieren gespielt und das ist wunderbar gelöst: Großzügig geschnittene Umhänge in knallbunten Farben, die an Mönchskutten erinnern, sind auf dem Rücken mit den Namen der einzelnen Figuren versehen. Alle spielen alles oder fast alles, und wir unten können so der Handlung mühelos folgen und hätten auch Freude an der Verwandlung und am temporeichen Spiel, wenn, ja, wenn es bei dem Lessingschen Text bliebe, und wir nicht immer wieder rausgerissen und belehrt würden.

Dieser Ausstieg aus Handlung und Rolle gipfelt darin, dass die Spieler sich mehrmals das Programmheft von einer Zuschauerin erbitten und aus den dort zusammengestellten – wiederum durchaus bedenkenswerten – Texten zitieren. Programmhefte bekommen tatsächlich häufig nicht die Wertschätzung, die sie verdienen, aber die Entscheidung, ob sie gelesen werden, sollten die Zuschauer doch selber treffen dürfen - nach dem Theaterbesuch.

Die Vorstellung, die ich gesehen habe, war so gut wie ausverkauft, und von Teenagern bis Senioren waren alle Altersgruppen vertreten. Es gab richtig viel Applaus; offensichtlich hat es den meisten besser gefallen als mir. Also lassen Sie sich nicht abschrecken, gehen Sie hin und machen sich selbst ein Bild!

Vagantenbühne, bis 29. November. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Berliner Ensemble - Remmidemmi ohne Ende

"Der nackte Wansinn" im Berliner Ensemble © Jörg Brüggemann

Wenn im Theater was schiefläuft – wenn ein Requisit fehlt, ein Auftritt verpasst wird, der Vorhang an der falschen Stelle auf- oder zugeht – und die Schauspieler auf der Bühne trotzdem weiterspielen müssen, als wäre alles in Ordnung, ist das immer ein großer Spaß fürs Publikum.

In Michael Fraynes Komödie „Der nackte Wahnsinn“ ist genau das Methode: Eine Tourneetheatertruppe probiert ein Stück, in dem Teller mit Sardinen, die meistens nicht da sind wo sie sein sollen, eine große Rolle spielen, sich Menschen begegnen, die sich nicht begegnen sollen, sich immerzu Türen schließen oder öffnen, allerdings meistens zum falschen Zeitpunkt.

Erster Akt: Die Nacht vor der Premiere. Aber es sieht nicht so aus, als ob am nächsten Tag die Vorstellung glatt über die Bühne laufen könnte: Die Sardinen stellen eine kaum zu meisternde Herausforderung dar, der Text, seit Wochen geprobt, wird plötzlich grundsätzlich hinterfragt, eine aus dem Auge gefallene Kontaktlinse führt dazu, dass alle auf dem Boden rumkriechen müssen und nicht weiterspielen können. Und als ob das alles nicht genug Grund zur Verzweiflung wäre, ist der Kollege, der die entscheidende Rolle des Einbrechers spielt, nicht auffindbar. Der Regisseur ist am Rande des Nervenzusammenbruchs.


Schlechtes Theater grandios gespielt


Außer dem Regisseur (Gerrit Jansen), Nina Bruns als Regieassistentin und Joyce Sanhá als Stagemanagerin – früher hieß das Inspizientin – müssen alle anderen zwei Rollen spielen: die Rollen im Stück, das auf Tournee geht und die Rollen der Schauspieler, die dieses Stück auf die Bühne bringen.

Oliver Reese überzeichnet die Figuren des Stücks im Stück konsequent, und die Schauspieler geben ihren Affen gnadenlos Zucker. Kathrin Wehlisch als Haushälterin mit Berliner Einschlag und Mutterwitz, Marc Oliver Schulze als hypernervöser Makler, Lili Epply als immerzu Kaugummi kauendes Dummchen, Peter Moltzen als vom Leben völlig überforderter Steuerflüchtling und Constanze Becker als seine Ehefrau, arrogant und nicht ohne Zynismus. Die tollen Kostüme von Elina Schnizler sind den Typen passend auf den Leib geschneidert.


Figuren zugunsten Komik geopfert


Zweiter Akt: Die Bühne hat sich gedreht, zu sehen sind jetzt die auf zwei Etagen befindlichen Türen von hinten, Kostümteile und Requisiten liegen bereit. Was sich im ersten Akt bereits andeutete, wird jetzt offensichtlich und in aller Breite ausgespielt: Alle haben Probleme, teils mit sich selbst, teils mit einem oder einer anderen aus der Truppe.

Da die Tour schon zweiunddreißig Vorstellungen hinter sich hat, ist die Luft auch ein bisschen raus, und die privaten Interessen drängen sich in den Vordergrund. Und so geht es auf der Bühne, die wir sehen, hoch her, während hinter der Bühne, was ja eigentlich auf der Bühne ist, der Kampf mit Sardinen und Türen und Text gekämpft werden muss.
Da wird sich geprügelt, Sardinen werden unters Kostüm gestopft, dem Kollegen aus Eifersucht die Schnürsenkel zusammengebunden, so dass er polternd die Treppe hinabstürzt. Und auch vor dem Einsatz einer Axt oder eines Kaktus’ an einem bestimmten Körperteil wird nicht zurückgeschreckt.
Was im ersten Akt bestens funktioniert, geht hier nicht auf. Die Figuren mit ihren ja wirklich vorhandenen Problemen werden nicht ernst genommen; übrig bleibt da leider nur Klamauk.

Im dritten Akt ist die Bühne wieder von vorn zu sehen. Aber viel ist von der ursprünglichen Dekoration (Bühne: Hansjörg Hartung) nicht geblieben. Das Ledersofa wurde durch ein billiges hässliches Teil ersetzt, der Tisch hat vier schiefe Beine und bald gar keine mehr; statt des Fernsehers steht da eine Plastikkiste, und das Treppengeländer ist nur noch schwarzgelbes Absperrband.

Die Tournee ist bei der 127. und damit letzten Vorstellung angekommen. Und alles läuft aus dem
Ruder, aber so konsequent, dass der aussichtslose Kampf der Schauspieler mit dem sowieso sinnfreien Stück in schiere Verzweiflung mündet und im Zuschauerraum des BE zu Lachsalven führt, die erst nach dem allerletzten Wort enden: Sardinen!!

Berliner Ensemble, 8. Dezember und 1. Januar. Hier geht's zu den Karten.



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3. Atze Musiktheater - Ernst gemeint im Spiel

"Das Huhn lügt" im Atze Musiktheater © Alexander Huber

Kinder spielen. Sie spielen „Das Huhn“. Ein Kind muss das Huhn sein, es will aber niemand. Also wird ausgezählt und damit steht das Huhn fest.
Was als Spiel gedacht ist und als solches beginnt, wird bitterernst.

Tamara Bach erzählt in ihrem Kinderbuch „Das Huhn lügt“, wie eine an sich harmlose Spielanordnung ganz schleichend zu Ausgrenzung und Einsamkeit führt; erzählt aber auch von der Kraft, sich dagegen zu wehren.

Wenn im Atze Musiktheater das Licht ausgegangen ist, entert eine Gruppe von Spielern den Saal, mustert das Publikum, nickt einzelnen zu; ein Chor von Stimmen flüstert „Alle, alle alle… – … sind da.“ Geheimnisvoll, dieser Beginn.

Die Spielerinnen tragen Jeans und graue T-Shirts, die durch schwarze mit der Aufschrift KIND bzw. HUHN ausgetauscht werden. Die Bühne ist leer bis auf ein großes Tuch, das von Portal zu Portal reicht. Die Spieler rollen es – und zwar buchstäblich, indem sie sich auf Brettern mit Rädern bewegen – bis zur Rampe aus. An Schnüren hängt ein Karton, der, wenn er entfernt wird, eine Kamera freigibt. Das ausgerollte Tuch wird zum Spielraum, zur Leinwand für ein Schattenspiel, aber auch zur Projektionsfläche von Bildern, die aus dem realen Spiel entstehen, durch den Blickwinkel von oben oder von hinten aber einen Perspektivwechsel für das Publikum ermöglichen.


Freude am Einfachen


Die Aufführung unter der Regie von Matthias Schönfeldt lebt neben einem spielfreudigen Ensemble von szenischen Lösungen, die in ihrer Einfachheit verblüffen und in ihrer Sinnfälligkeit begeistern.

Da wird die vordere rechte Ecke des Bühnentuches angehoben, Klebeband im rechten Winkel aufgeklebt, fertig ist das Kinderzimmer. Und wenn die Mutter die Tür öffnet, um das Zimmer zu betreten, löst sie ein Stück vom Klebeband und klebt es schräg wieder auf. Später kann ein Stück davon auch als Pflaster herhalten.
Ein Spieler legt sich mit einem Fahrrad auf den Boden. Von rechts nach links werden vorn Pappwolken, die durch Strippen miteinander verbunden sind, gezogen und eine Sonne, so wie Kinder sie malen, von einer Spielerin gedreht. Hinten wandern aneinander gebundene Rechtecke von einer Seite zur anderen. Mit der Kamera von oben aufgenommen und mit Beamer auf das Tuch projiziert, radelt da ein Kind im Sonnenschein.

Am Ende, wenn alles erzählt ist und vielleicht alle etwas gelernt haben, halten die Kinder das Tuch über sich und sitzen einträchtig zusammen wie unter einem Dach.

Die Darsteller und Darstellerinnen überzeugen nicht nur spielerisch, sondern auch durch Pantomine und Akrobatik. Einfühlsam unterstützt werden sie durch Schlagwerk und "Oboe d'amore" im Wechsel mit dem "Englischhorn". Alles in allem: Großartig!

Atze Musiktheater, empfohlen ab 8 Jahren; 6. und 7., sowie 25. bis 27. November. Hier geht’s zu den Karten.

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