Heute: 1. STAATSBALLETT BERLIN – "MINUS 16“ / 2. MAXIM GORKI THEATER – "PROZESS" / 3. HANS OTTO THEATER POTSDAM – „LAZARUS“
Ganz schön Gaga, dieser Abend. Als erste Premiere der Spielzeit präsentiert das Staatsballett Berlin keine wirkliche Neuschöpfung. Sondern vereint in der Deutschen Oper zwei Choreographien von Ohad Naharin und Sharon Eyal, die für Berlin neu einstudiert wurden. Beide Israelis sind dem Staatsballett eng verbunden. Mag ihre Arbeit unterschiedlich sein, schöpfen Naharin und die jüngere Kollegin jedoch aus demselben Background.
Tanz spielt in Israel eine enorme Rolle. Sei es der Volkstanz, der zur Entstehung einer neuen Identität beitrug. Oder der moderne Tanz, der mit seiner Körperbetonung für den neuen jüdischen Menschen steht, für die Freiheit eines lange unterdrückten Volkes. Die Batsheva Dance Company, 1962 gegründet, wurde anfangs geprägt von der Mutter des Modern Dance, Martha Graham. Mit der Zeit nabelte sich die Kompanie ab und wurde eine der weltweit wichtigsten Tanzinstitutionen.
Ohad Naharin, der noch bei Martha Graham in New York getanzt hatte, stieß 1974 zu Batsheva. 1990 wurde er Leiter der Truppe, wirkte als Choreograf und Bühnenbildner. Unter seiner Führung arbeitete Sharon Eyal als Tänzerin und später als Haus-Choreografin, ebenfalls mit internationalem Erfolg. „Saaba“, uraufgeführt vor drei Jahren in Göteborg, ist bereits die vierte Arbeit, die das Staatsballett zeigt, in der Co-Choreografie von Gai Behar. Die Kulisse auf leerer Bühne liefert Alon Cohens Lichtkunst mit Scheinwerfern und Nebelschwaden. Ein 50-minütiger Blick in ein rätselhaftes Universum, der nicht zuletzt von der Musikcollage von Ori Lichtik geprägt ist, dessen Klänge unlängst bei „Wolf“ im Chamäleon-Theater begeisterten (mehr dazu im Blog Nr. 489 vom 16. September 2024).
Kostüme aus dem Hause Dior
Auch bei „Saaba“ wechselt der Soundtrack zwischen den Genres. Tänzerisch baut Eyal einen Gegenpol zu den lauten und bunten Klängen auf. Fast streng agieren die Tänzerinnen und Tänzer. Man muss mitunter an die „Körper“-Choreografie von Sascha Waltz denken. Der Eindruck, die Akteure seien nackt, täuscht hier. Die fast durchsichtigen Kostüme stammen von Maria Grazia Chiuri, Kreativdirektorin des Mode-Imperiums Dior. Zeitgenössischer Tanz wie auf dem Laufsteg, teilweise sich aus dem klassischen Kanon bedienend, ein Wechselspiel zwischen Erstarrung und Bewegung, zwischen Gruppenzwang und Individualität, Fesselung und Entfesselung. Alles sehens- und hörenswert.
Wenn das Publikum nach der Pause zurück in den Zuschauerraum strömt, verausgabt sich bereits ein junger Mann auf der Bühne bis zum Umfallen zu Mambo-Rhythmen. Das 24-köpfige Ensemble stößt allmählich dazu. Ohad Naharin ist weltweit für seine Bewegungssprache Gaga bekannt. Durch rückhaltlose Öffnung, auch durch die Bereitschaft sich zu quälen, entsteht ein neuartiges Körpergefühl. „Minus 16“ hat noch mehr Jahre auf dem Buckel als Sharon Eyals Arbeit. Es entstand 1999.
Ausbruch aus allen Konventionen
Eine zentrale Passage war sogar schon in einer Show des Friedrichstadt-Palasts zu sehen. Sie basiert auf dem Lied „Echad Mi Yodea“, das am Ende des Seder-Abends zum Pessach-Fest im Familienkreis, meist in weinseliger Stimmung, erklingt. Es geht um die religiöse Bedeutung von Zahlen und wird mit den Strophen immer ekstatischer. Die wie orthodoxe Juden gekleideten Tänzerinnen und Tänzer lassen erst die Hüte, dann die Mäntel und sogar Hemd und Hosen durch die Luft wirbeln. Sinnbild für den Ausbruch aus der Tradition?
Auch die Konventionen des Kulturbetriebs bleiben bei Naharin nicht unberührt. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie als Tanzpartner auf der Bühne landen könnten.
Staatsballett Berlin in der Deutsche Oper Berlin, bis zum 29. November. Hier geht’s zu den Karten.
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Die beiden Wächter tanzen Walzer, als sie Herrn K. in Gewahrsam nehmen. Alles halb so schlimm, der Beschuldigte kann erst mal weiter zur Untermiete bei Frau Grubach wohnen. Auch seiner Tätigkeit als Prokurist einer Bank dürfe er nachgehen, bevor ihm irgendwann der Prozess gemacht werde. „Was für ein Prozess?“ fragt Josef K. Ja, das wüsste man als Zuschauer auch gerne. Denn so unklar es ist, was dem Protagonisten in Franz Kafkas Romanklassiker „Der Prozess“ eigentlich vorgeworfen wird, so wenig verständlich bleibt die Deutung, die Hausregisseur Oliver Frljic´ bei seiner Bühnenadaption „Prozess“ frei nach Kafka im Maxim-Gorki-Theater anstrebt.
Kafka kann auch komisch sein. Das hat das Haus bereits im vergangenen Jahr mit einer überdrehten Version von „Amerika“ bewiesen (mehr dazu im Blog Nr. 427 vom 13. Februar 2023). Weg von dem Bild des lungenkranken, depressiven Mannes, das uns als Schwarzweiß-Foto von dem Prager Dichter überliefert ist. Nun, zu seinem 100. Todestag, erleben wir Kafka über weite Strecken im Dreivierteltakt. Edgar Eckert als Josef K. erscheint mit seiner schwarzen Lockenmähne wie ein gutmütiger und lange Zeit gutgläubiger Clown, der sich einer anonymen Macht ausgesetzt sieht.
Die vielen Nebenfiguren werden von einem darstellerisch fulminanten Quintett verkörpert, alle mit identischer Frisur und im braunen Anzug. Darunter die prominente Kollegin Christiane Paul; der Film- und Fernsehstar spielt nach langen Jahren wieder mal Theater. Als Mann maskiert verharrt sie als Zuschauer im Parkett, bevor sie auf die Bühne kommt. Ihren Platz unten nimmt irgendwann Josef K. ein. So sind wir wechselnd Publikum, Zeugen, Richter und Angeklagte in einem Prozess, in dem niemand weiß, um was es geht. Muntere, ja übermütige Dialoge ersetzen die nüchterne Erzählweise in der dritten Person des Romanfragments, an dessen Handlung sich Frljic´ bis kurz vor Schluss auch hält.
Lutscher in K-Form
Verhandelt wird ein Stück Weltliteratur, das, dramatisiert, verfilmt und vertont, zahllosen Interpretationsversuchen ausgesetzt war. Hat der Prozess mit Kafkas unglücklichen Frauengeschichten zu tun? Geht es um seinen problematischen Umgang mit Autoritäten in Familie und Beruf? Sind die Schuldgefühle des Herrn K. ein Hinweis auf Antisemitismus und jüdischen Selbsthass? Ist der Prozess eine Anklage an die Justiz?
An Kafka haben wir weiterhin zu knabbern, scheint der sonst so streitbare Autor und Regisseur sagen zu wollen, wenn er Lutscher in K-Form an seine Spielenden verteilt. Für Frljics´ Verhältnisse ist das alles erstaunlich zahm. Ein paar Gender- und Masken-Spielchen sorgen noch für einen homoerotischen Deutungsansatz. Ansonsten bestaunt man starke Bilder und slapstickhafte Szenen auf Igor Pauškas’ zunächst nahezu kahler Bühne. Die Spielfläche wird mal von einer Statue der Justitia dominiert, dann von einer überdimensionalen Tür, von bedrohlich auf und herunter fahrenden Podesten. Das Verprügeln der beiden Wächter wird zur fröhlichen Folter, als Werkzeug findet dabei eine Schreibmaschine Verwendung. Hinweis auf die Qualen, die uns die Bürokratie bereiten kann?
Am Ende steht Franz Kafka persönlich vor dem Richter, angeklagt von seiner eigenen Schöpfung. Anders als der Schriftsteller erzählt uns Frljic´ nicht, wie Herr K. im Roman zu Tode kommt. Für die vielen Unklarheiten des Abends können uns zumindest die theatralischen Finessen entschädigen.
Maxim Gorki Theater, bis zum 29. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.
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Bei uns im Schöneberger Kiez, in der Hauptstraße 155, erinnern eine Gedenktafel, Kerzen und Blümchen an den berühmtesten Bewohner des Hauses. Besucher aus aller Welt wollen den Ort sehen, wo sich David Bowie 1976 eingemietet hatte. Zwei Jahre lebte der britische Popstar in der Hauptstadt, und ich kenne Schöneberger, die dem Künstler noch in diversen Gaststätten begegnet sein wollen. Die meisten dieser Kneipen sind längst zu. Bowies Musik, gerade die in Berlin entstandenen Songs wie „Heroes“, lebt weiter.
Für Anhänger der Popikone bietet sich nun eine Pilgerfahrt nach Potsdam an. Das Hans Otto Theater spielt „Lazarus“. Ein Musical mit vielen seiner bekannten Titel, das Bowie gemeinsam mit dem Librettisten Enda Walsh verfasste. Ende 2015 war Premiere in New York, Bowie saß, vom Krebs gezeichnet, im Publikum. Einen Monat später erschien zum 69. Geburtstag sein letztes Album, zwei Tage darauf starb der Sänger und Songschreiber. Wie er zeitlebens sein Werk und Auftreten inszeniert hatte, zelebrierte Bowie auch sein Ableben.
Der Tod eines Unsterblichen, dieses Motiv schwingt immer mit in Bernd Mottls Potsdamer Inszenierung. Dabei geht es in „Lazarus“ erst einmal gar nicht um David Bowie. Das Jukebox-Musical wurde von einem Science-Fiction-Roman von Walter Travis inspiriert. In der Verfilmung von „Der Mann, der vom Himmel fiel“ spielte David Bowie 1976 einen Außerirdischen, der auf der Suche nach Wasser für seinen bedrohten Planeten auf der Erde landet und nicht mehr zurück kann. „Lazarus“ ist gewissermaßen die Fortsetzung.
Außerirdischer wird zum Alkoholiker
Tom Newton heißt dieser Außerirdische. Tom, wie Major Tom, eine der berühmtesten Songhelden Bowies. Und nicht zufällig erinnert der Tom, den Philipp Mauritz mit rötlichem Haar und weißem Anzug verkörpert, an den Kultmusiker aus London. Bowie, der Überirdische, na klar! Die Wohnung (Bühne und Kostüme: Friedrich Eggert), die der Gestrandete seit Jahren nicht verlässt, hat den Charme einer Intensivstation. Ginflaschen überall. Die Unsterblichkeit macht den Langzeitgast aus dem All zum Alkoholiker.
Betreut wird er von Elly (Nadine Nordau), die sich vom Kontakt zu Tom etwas Glamour in ihrem biederen Hausfrauen-Dasein verspricht. Tom jedoch hat nur Augen für ein engelsgleiches Wesen, ein Mädchen (Mascha Schneider), das aber wohl nur in seiner Phantasie existiert. So wie die Figuren seiner Vergangenheit, die frühere Liebe Mary Lou (Alina Wolff), vor allem aber die finstere Gestalt Valentine (Jan Hallmann), der Toms Gegenspieler und Alter Ego zugleich zu sein scheint.
Ensemble zeigt sich musikalisch top
Rätsel, für die man sich im Lauf der surrealen Story immer weniger interessiert, auch wenn es einem versierten Regisseur wie Bernd Mottl, der in Berlin unter anderem am BKA inszenierte, nicht an ironischen Einfällen mangelt. Das Wichtigste bleibt die Musik, wobei die Vokalparts nicht nur der Hauptfigur überlassen werden. Wie schon in früheren Produktionen zeigt das Ensemble, wie viel Musik in ihm steckt. Sängerisch und tänzerisch, choreografiert von Hakan T. Aslan, in wechselndem Outfit aus diversen Schaffensphasen Bowies, geht es auf Reisen in einen Pop-Kosmos. Man schwelgt in Hits wie „Absolute Beginners“, „Changes“, „Live on Mars?“ und natürlich „Heroes“.
„Look up here, I’m in Heaven“, heißt es im Titelsong. Ob es Bowie gefallen würde, blickte er von oben aufs Hans Otto Theater? Wir wissen es nicht.
Hans OttoTheater Potsdam, am 3. November. Hier geht’s zu den Karten.
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder
1. Vaganten Nathan abgespeckt und aufgepeppt
2. Berliner Ensemble Remmidemmi ohne Ende
3. Atze Musiktheater Ernst gemeint im Spiel
1. Staatsballett Zwischen Laufsteg und Happening
2. Gorki Kafka wird der Prozess gemacht
3. Hans Otto Theater Vom Tod eines Unsterblichen
1. Deutsches Theater Mit Fellini zum CSD
2. Neuköllner Oper Die korrekte Strenge des Gesetzes
3. Hans Otto Theater Die Mondäne auf der Endmoräne
1. Volksbühne Kannibalismus im digitalen Dschungel
2. Deutsches Theater Wenn die Natur zurückschlägt
3. Distel Zwischen Kritik und Klamauk