Heute: 1. CHAMÄLEON THEATER – "WOLF“ / 2. DIE STACHELSCHWEINE – "ICH HAB’ NOCH EINEN TESLA IN BERLIN"/ 3. NEUKÖLLNER OPER – „DADDY UNPLUGGED“
Feste soll man feiern, bis sie fallen. Wobei das Fallen bei der Circa Company nicht nur sprichwörtlich gemeint ist. Wie sich die zehn Akrobatinnen und Akrobaten zu menschlichen Türmen, Bündeln, Pyramiden und Skulpturen vereinen, die auf wackeligen Füßen stehen, immer kurz vor dem Zusammenbruch, wie Mitstreiter aufgefangen werden, oder eben auch nicht, das ist Körperkunst in seiner besten Ausprägung. Für mich persönlich das bislang fulminanteste Beispiel für die Möglichkeiten des Zeitgenössischen Zirkus.
Das Chamäleon besuchte ich schon, als es noch als Varieté firmierte. In einem runtergekommenen früheren Ballsaal in den Hackeschen Höfen, in denen viel gebaut, restauriert, investiert und spekuliert wurde. 2004 hatte das Varieté fertig, Anke Politz und ihr damals noch winziges Team zogen ein. Man modernisierte die Location, hatte erst mal immer nur eine Produktion im Blick, verzichtete auf ein eigenes Ensemble und baute auf ein Netzwerk, das dem Cirque Noveau zur Anerkennung verhelfen sollte. An ein 20-jähriges Jubiläum dachte niemand.
Zum runden Geburtstag musste man nach all den bestaunenswerten Abenden der Vergangenheit was draufsetzen. Und das ist mit „Wolf“ absolut gelungen. Sogar wenn man davon ausgeht, dass bei Premieren die Zuneigung der vielen geladenen Gäste gewiss ist, war die Begeisterung über jeden Zweifel erhaben. Es ist kraftvoll und zugleich bewegend, perfekt ineinander greifend, was Circa, die Truppe um Regisseur Yaron Lifschitz auf eine breite Bühne vor weißer Fläche zaubert. Die Kompanie aus dem australischen Brisbane hat wie kein anderes Ensemble die Geschicke des Chamäleon Theaters begleitet und sich in dieser Zeit selbst enorm entwickelt (mehr dazu im Blog Nr. 365 vom 13. September 2021).
Schafe im Wolfspelz
Alle erscheinen im bräunlichen Kostüm (Libby McDonnell), das an das Tier erinnert, das nach Jahrhunderten bei uns erneut heimisch wird. Animalisch, mit fletschenden Zähnen und glühendem Blick. In Solo, Duetten und kleinen Gruppen, die nicht zufällig an zeitgenössischen Tanz erinnern, werden Ängste, Zweifel, Unsicherheiten, ebenso das Nichtdazugehören zum Ausdruck gebracht. Man erlebt auch Schafe im Wolfspelz, die sich nicht wehren können. Man merkt: Es braucht eine gewisse Unbezähmbarkeit, um den Anforderungen unserer Welt zu trotzen.
Mit zunehmender Rudelbildung wird deutlich, was entstehen kann, wenn die Energie der Individuen zusammenfindet. Auch das nicht neu bei Circa, hier aber anders und noch eindrücklicher erzählt. Jede Bewegung, jeder Schritt ist von Bedeutung. Es gibt sensationelle Darbietungen an Seil, Strapaten (Christina Zauner) und Tuch (Luke Thomas). Doch es überwiegt die Bodenakrobatik. Wenn man von Boden überhaupt noch sprechen kann, wenn alle Beteiligten überwiegend abheben.
Nicht minder sensationell die Musik von Ori Lichtik, der auch mit Tanzkompanien und Opernhäusern arbeitet. Die Instrumentalklänge bedienen sich bei Industrial, Techno, HipHop, bei Barockmusik, traditionellen Klängen aus Afrika und Fernost. Lichtik weiß als gelernter Schlagzeuger, wie wichtig der Beat ist, hier jedoch meist gegen die Bewegungen der Menschen auf der Bühne. So wird der Begleiter zum Mitspieler. Im Verbund mit dem Lichtdesign von Alexander Berlage gelingt ein 90-minütiges Gesamtkunstwerk, das jede Sekunde in Atem hält.
Chamäleon Theater, bis zum 5. Januar 2025. Hier geht’s zu den Karten.
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Noch ein Jubiläum: Die Stachelschweine, das älteste Kabarett Berlins, werden 75. Ein Alter, in dem man eigentlich längst in Rente ist. Obwohl, wenn man an so manche Forderung einzelner Politiker denkt… Somit sind wir schon mittendrin in der Thematik. Regisseur und Texter Frank Lüdecke und sein langjähriger Koautor und musikalischer Leiter Sören Sieg bauen auch zum Jubiläum auf das Ensemble-Kabarett. „Ich hab’ noch einen Tesla in Berlin“ würdigt die eigene Tradition, aber mit modernen Mitteln.
Eine Geschichte, die in nicht allzu ferner Zukunft spielen könnte. Sahra Wagenknecht ist Kanzlerin. Bei der Bundestagswahl 2029 hat sie als Amtsinhaberin 12 Prozent Verlust eingefahren, jetzt sind es nur noch 54 Prozent. Was der selbstgefälligen Politikerin fast noch mehr aufstößt, ist die Staatsverschuldung. Alle wichtigen Unternehmen sind abgewandert. Die Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik ist am Boden, es droht der Rausschmiss aus der EU. Selbst von Freund Putin kommt keine Hilfe. Da hat die Kanzlerin einen teuflischen Plan, mit dem all ihre Versprechen finanziert werden könnten.
Langjähriges Symbol der Freiheit
An die glorreichen Zeiten des Ensembles erinnert lediglich eine Präsentation historischer Fotos vor Showbeginn, unter anderem vom Gastspiel in Israel 1970. Man sieht die damaligen Mitglieder mit Ben Gurion, Szenen einer Aufführung in einem Kibbuz und das langjährige Ober-Stachelschwein, den ewig berlinernden Wolfgang Gruner, ausnahmsweise schweigend vor der Klagemauer.
Apropos Mauer: Weit über die Grenzen West-Berlins reichte der Ruhm des Ensembles als Frontstadt-Kabarett. Bei den Übertragungen des Senders Freies Berlin, noch in Schwarz-Weiß, sah man in der Regel den Regierenden Bürgermeister im Publikum, mal herzhaft lachend, mal gute Miene zum satirischen Spiel machend. Heute sind es die Nöte der Marktwirtschaft, die Frank Lüdecke und seine Frau Caroline als Theaterleitung umtreibt (mehr dazu im Blog Nr. 484 vom 3. Juni 2024). Politprominenz suchte man bei der Premiere im Europacenter vergeblich. Kein Bürgermeister, kein Kultursenator, unverzeihlich!
„Berlin, Berlin, was wird nun aus Berlin?“ Nun, die Hauptstadt wird von Wagenknecht verkauft. Und zwar an einen Hersteller von Elektroautos, der auch Menschen auf den Mars schickt, Sprachnachrichten verwaltet und Gehirne implantiert. Berlin wird fortan wie eine Firma geführt, da haben demokratische Spielregeln keine Chance. Weil das nicht jedem passt, wird die „True City of Berlin“ umzäunt, das hatten wir ja schon mal. Doch es regt sich Widerstand.
Sahra und Franziska ernten Lachsalven
In vielen kleinen Szenen und Rollen dreht das Trio auf der Bühne darstellerisch und musikalisch mächtig auf. Mach uns die Wagenknecht, dürfte man Santina-Maria Schrader künftig zurufen, so umwerfend parodiert sie die Bündnis-Führerin, auch in ihrer bisherigen Paraderolle als Franziska Giffey mit typischem Säuselton erntet die Schauspielerin Lachsalven. Nicht minder wandlungsfähig, mal als Managerin, mal als Öko-Tussi, zeigt sich Mirja Henking. Auch das neue Stachelschwein Sebastian Sterlt bringt sich vielseitig, als Komödiant, Sänger und Pianobegleiter der Gesangsterzette. Kurzum, alle sind in Hochform.
Elon Musk wird zwar ständig erwähnt, aber er tritt nicht auf. Vielleicht besser so, der Multimilliardär soll ja gerne Prozesse führen. Womöglich kauft er noch das Europacenter, mit den borstigen Kabarettisten im Tiefgeschoss. Mögen sie noch lange spielen!
Die Stachelschweine, bis zum 25. November. Hier geht’s zu den Karten.
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Welche Tochter, welcher Sohn träumt nicht von einem „Daddy Cool“? Je kleiner das Kind, desto größer das Ideal, das der Papa verkörpert. Mit zunehmendem Erwachsensein stellt sich im Bild des Nachwuchses in der Regel eine gewisse Ambivalenz ein. Bis es irgendwann zu spät ist, die Fragen zu stellen, die man schon immer stellen wollte. Die Konflikte zu klären, die das Verhältnis zu den Eltern erschwerten. Oder einfach, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, seine Liebe auszudrücken.
An der Schwelle dieser verpassten Chancen befinden sich Hanno, Frieda und Maria im Musiktheater „Daddy Unplugged“ in der Neuköllner Oper. Die Drei warten im Gang einer Klinik auf Nachrichten über den Zustand ihrer Väter. Marias Vater sollte eigentlich schon längst von einer Operation erwacht sein, Friedas Papa wurde wegen eines Schlaganfalls eingeliefert, und der alkoholkranke Erzeuger des hippen Hanno fuhr mit dem Fahrrad auf die Autobahn, wohl in suizidaler Absicht. Die jungen Leute tauschen sich aus, in ihren Erinnerungen lauert mancher Abgrund.
Fast jeder Mensch kann eine Geschichte über seinen Vater erzählen, ohne Väter würde es uns ja nicht geben. Auch die Weltliteratur bietet eine Fülle von Beispielen. Verglichen damit geht es im Stück des Autorengespanns Sarah Nemitz und Lutz Hübner – sie zählen zu den meistgespielten Dramatikern – eher profan zu. Nicht weltbewegend, aber bewegend eben, vor allem wegen des persönlichen Bezugs vieler Beteiligter.
Stöbern in Papas Plattensammlung
Regisseurin Alexandra Liedke brachte der frühe Tod ihres Vaters überhaupt erst dazu, an dem Projekt mitzuwirken. Peer Neumann, der musikalische Leiter, erzählt von seinem verstorbenen Vater, mit dem er einst in der Band „Bodo and his Kids“ auftrat und der ihm eine Sammlung von etwa 10.000 Schallplatten vermachte. Genug Inspiration für die Songs, die in Neumanns Arrangements oft zusätzlichen Elan entfalten.
Die Schauspielerinnen Frederike Haas und Katharina Beatrice Hierl sowie ihre Kollegen Owen Read und Chris Jäger schlagen sich auch gesanglich großartig. „Daddy Cool“, der Hit von Boney M. ist nicht dabei, dafür jede Menge väterliche Pop- und Rocksongs wie „Father and Son“ von Cat Stevens bis „Wenn ein Mensch lebt“ von den Puhdys. Wer die Musik schätzt, schwelgt an diesem Abend, obwohl oder gerade weil der Tod Pate stand, in Erinnerungen.
Rendezvous unterm Nierentisch
Dias aus dem Projektor, Aufnahmen von Wohnzimmern mit Nierentisch, von feucht-fröhlichen Festivitäten tragen bei zu diesem szenischen und klanglichen Familienalbum, bei dem auch frühere politische Überväter, Adenauer und Ulbricht, Schmidt und Kohl, zu Wort kommen. Was eigentlich gar nicht nötig wäre. Wohl jeder im Publikum fühlt sich an diesem Abend persönlich angesprochen. Nach den kurzweiligen 90 Minuten verwandeln sich die Kulissen in eine Ausstellung zum Vater-Komplex, die man noch besichtigen darf. Auch das recht unkonventionell. Aber Ungewohntes ist man in der Neuköllner Oper ja gewohnt.
Neuköllner Oper, bis 12. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.
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4. Buchtipp: Sieben Jahre Staatsoper Unter den Linden
Von 2017 bis Sommer 2024 leitete Matthias Schulz, eine knappe Spielzeit noch gemeinsam mit seinem Vorgänger Jürgen Flimm als Intendant die Staatsoper. Sieben Jahre, an die das Opernhaus nun mit einem hochwertig gestalteten und reich bebilderten Buch erinnert.
Dieser Zeitraum war selbst für die bewegte Geschichte der Lindenoper außergewöhnlich reich an Zäsuren. Am Beginn steht die verspätete wie verzwickte Rückkehr aus dem Interimsquartier Schiller Theater ins generalsanierte Haus. Zwei wichtige Jubiläen fallen in diese Zeit, 450 Jahre Staatskapelle und 200 Jahre Staatsoperchor. Der größte Einschnitt aber war der Rücktritt Daniel Barenboims nach mehr als drei Dekaden als Generalmusikdirektor.
Und dann etwas, was bis dato niemand kannte: Die Corona-Pandemie, die auch hier den Spielbetrieb lahm legte, was mit originellen Ideen wie den privaten Hofkonzerten aufzufangen versucht wurde. Erinnerungen an die Premieren und Konzerte sind neben Texten und Gesprächen das Beglückende an diesem Band. Man ist froh, dass man teilnehmen durfte. Und wer es nicht erlebt hat, wünscht sich, dabei gewesen zu sein. 320 Seiten, 23,00 €. Erhältlich direkt bei der Staatsoper.
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder
1. Vaganten Nathan abgespeckt und aufgepeppt
2. Berliner Ensemble Remmidemmi ohne Ende
3. Atze Musiktheater Ernst gemeint im Spiel
1. Staatsballett Zwischen Laufsteg und Happening
2. Gorki Kafka wird der Prozess gemacht
3. Hans Otto Theater Vom Tod eines Unsterblichen
1. Deutsches Theater Mit Fellini zum CSD
2. Neuköllner Oper Die korrekte Strenge des Gesetzes
3. Hans Otto Theater Die Mondäne auf der Endmoräne