HEUTE: 1. Maxim-Gorki-Theater – „Im Menschen muss alles herrlich sein“ / 2. Berliner Ensemble, Neues Haus – „Mutti, was machst du da?“ / 3. Extra-Tipp: Familienausflug zum Jahreswechsel in den Admiralspalast zu „Berlin Berlin“
Breschnew-Sowjetunion, Perestroika-Sowjetunion, Oligarchen-Russland, Mauerfall, Deutschland als Berliner Republik… Von solch weltenstürzenden Umbrüchen und von Menschen, die das Schicksal in derart dramatische Zeitläufte warf, handelt Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“.
Die Autorin kam als Zehnjährige 1985 mit ihrer Familie aus Wolgograd nach Deutschland; als so genannte jüdische Kontingentflüchtlinge. Inzwischen avancierte sie zur herausragenden Größe unseres Literaturbetriebs, geehrt mit vielen Preisen. Das Gorki engagierte sie klugerweise als Hausautorin. Darüber hinaus versteht sich Sasha Marianna Salzmann als LGBT-Aktivistin; die beiden Vornamen sind prononciertes Zeichen ihrer non binären Identität.
Zurück zum Buch, das 2021 erschien, 2022 mit dem Hermann-Hesse-Literaturpreis gewürdigt wurde und mit außerordentlicher Sprachkraft eben davon erzählt, wie Menschen in besagt wechselvollen, auch lebensbedrohlichen Zeitläuften zurechtkamen, wie sie von ihnen geprägt wurden – und werden. Ein weitverzweigtes, Epochen und Generationen umspannendes Geschichts- und Geschichtenbuch. Und eine Familiensaga: Packend, lehrreich, herzbewegend.
Mithin eine großartige Vorlage fürs Theater. Regisseur Sebastian Nübling und Dramaturgin Valerie Göhring haben eine geschickt komprimierte Fassung erarbeitet. Mit der Auswahl von nur vier Figuren in jeweils prägnanten dramatischen Szenen.
Es geht um die schwierige Freundschaft zweier nach Deutschland übersiedelten Mütter, Edita (Yanina Ceron) und Lena (Cigdem Teke), sowie um die tiefgreifenden Konflikte mit ihren Töchtern Nina (Lea Draeger) und Tatjana (Anastasia Gubareva), geboren noch in der UdSSR, aufgewachsen in Jena.
Die Gräben zwischen allen und allem sind tief
Im Grunde ist es ein Clinch zwischen Müttern und Töchtern; zugleich aber auch innerhalb der Generationen. Und darüber hinaus zwischen Ost und West. – Diesbezüglich gab die Autorin kürzlich in einem Gespräch zu Protokoll: „Ich denke, dass der so genannte Osten viel aus dem Kollektiv und aus der Gruppe heraus denkt; im Guten – Gemeinschaftssinn und Familienbande sind stärker – wie im Schlechten – die anderen entscheiden mit, was für einen richtig sein soll. Im schlimmsten Fall übernimmt das Denken ein totalitärer Staat.“
Die verwinkelten Gräben zwischen allen und allem sind tief; die Versuche, sich nahe zu kommen, sich zu verstehen, meist glücklos. Enttäuschungen dominieren, Wut, Wehmut, Schmerzen. Zärtlichkeit ist selten, doch gelacht wird auch. Und verzweifelt gesungen. Eben des Lebens Fülle.
Sehnsüchte und Aggressionen prallen aufeinander
Nübling inszeniert das hinreißend in neunzig Minuten. Die vier hinsichtlich Temperament und Charakter sehr unterschiedlichen Figuren faszinieren allein schon durch die Aura der Schauspielerinnen. Und bannen das Publikum durch die Intensität des Erzählens und Kommentierens oder auch: Schweigens. Alles auf völlig leerer Bühne. Nur das wiederholte Auf und Nieder des Eisernen Vorhangs (genialer Einfall) gliedert; markiert Gegensätze, Trennendes oder hartes Aufeinanderprallen der Aggressionen und – natürlich – die ungestillten Sehnsüchte nach Miteinander, nach glücklichem Beieinander.
So tauchen wir ein ins gegenwärtige wie vergangene Leben von Edita und Lena, Nina und Tatjana; in ihr Denken und Fühlen, ins komplizierte Geflecht ihrer Beziehungen zueinander. – „Ist es möglich, mit der eigenen Mutter nicht in der Vergangenheit zu reden oder in der Zukunft; ihr in die Augen zu schauen nur im Jetzt; sich nicht mehr vorwerfen, was war, oder beklagen, was niemals sein wird?“ – Das sind so Fragen…
Ja, wir wären gern noch eine Weile geblieben bei dem aufregenden weiblichen Quartett. Im Salzmann-Buch steckt doch Überfülle! Warum also nicht noch einige der bannenden Szenen mehr. Etwa darüber, wie das ablief mit der Übersiedlung in den Westen; wie die Ankunft war in Deutschland, das Heimischwerden oder Fremdbleiben.
Dennoch: Ein tief berührender, zuweilen auch verrückter Theaterabend. Großartig. Er macht Lust, den ganzen Roman zu lesen. Alle 385 Seiten.
Maxim Gorki Theater, 2. und 13. Januar; 23. Februar. Hier geht’s zu den Karten.
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Achtung: Bei der Frage im Stücktitel, was denn Mutti da mache, haben wir es mit gleich drei Müttern zu tun. Und die machen, was bestenfalls alle Mütter tun: Sich kümmern um ihre Kinder.
Das geschieht rührend, hingebungsvoll, ist pfiffig oder auch dämlich bis übergriffig. Und wenn sie anfangen, sich um sich selbst zu kümmern, um ihren persönlichen Saft- und Kraftladen, ist der Nachwuchs erleichtert, befreit oder betreten, bekümmert, belastet. So verwinkelt und verwickelt läuft das in Familienbetrieben. Kleinkrieg und große Versöhnung immer schön dicht beieinander.
Autor Axel Ranisch und sein Ehemann Paul Zacher kennen sich damit aus. Haben einen scharfen, doch ungehemmt liebevollen Blick auf die Härten des Lebens. Etwa im Hochhausviertel Fennpfuhl tief im Osten Berlins, wo sie heimisch sind. Wo mehrheitlich Leute leben, die es so dicke nicht haben, um leicht über die Runden zu kommen.
Ranisch, beeindruckend beleibt, Jahrgang 1983, der neuerdings auch an der Komischen Oper inszeniert, erzählt davon in seinen Filmen „Alko Alki“, „Dicke Mädchen“, „Orphea in Love“ oder „Ich fühl mich Disco“ und zuletzt (2018) in seinem auch als Serie verfilmten, autobiografisch grundierten Romandebüt „Nackt über Berlin“. Ebenfalls zusammen mit Zacher entstand die NDR-Hörspielfolge „Anton und Pepe“. – Was in drei Teilen und insgesamt reichlich fünf Stunden die Radiohörer amüsierte, erleben wir jetzt auf der Bühne, eingedampft auf gut 100 Minuten unter dem neuen Titel: „Mutti, was machst du da?“
Wanken zwischen Euphorie und Enttäuschung
Im Mittelpunkt steht die zwischen Euphorie und Enttäuschung wankende Lovestory von Anton Hartwichsen (auszusprechen mit weichem „ch“) und Pepe Schauer. Und die wiederum steht unter ständiger Beobachtung, ob wohlwollend oder kritisch, von Antons Mutter Elke, seiner Großmutter Evelyn und Pepes Mutter Astrid.
Evelyn, einst überwiegend glücklich verheiratet, jetzt verwitwet, leicht reduziert durch Schwerhörigkeit und Altersdemenz, lässt sich die Lebensfreude trotzdem nicht vermiesen. Mutti Elke, einst überwiegend unglücklich verheiratet mit einem Alkoholiker, geschieden. Mama Astrid, alleinstehend, esoterisch veranlagt und krebskrank (die Lymphe), hatte viel Pech mit Männern und bandelt unverdrossen sehnsuchtsvoll mit dem Wohnungsvermieter Manfred. Leider kommt sie mit ihrem kleinkriminellen, bipolar gestörten und drohende Obdachlosigkeit verheimlichenden Sohn Pepe überhaupt nicht klar. Wie auch der liebeshungrige Anton, Student der Musikwissenschaft, mit dem umschwärmten, vergeblich lebenskünstlerischen Pepe nicht klarkommt. Soweit die vertrackte Gemengelage. Man taumelt in gefährlicher Nähe vom Abgrund, um sich zum herzigen Finale zu vereinen in rettender Umarmung. Mit hoffnungsfrohem Ausblick auf eine Mehrgenerationen-WG.
Das Erstaunliche der Ranisch-Inszenierung: Die annoncierte „Musikalische Dramödie“ mit aufgepfropften Musiknümmerchen findet ihren erstrebt schwungvollen Sound nicht. Es ruckelt und holpert und wirkt wie zusammengeschustert. Schon das Script, zwar ohne falsche Töne, ist übergewichtig vollgestopft mit Problemen und gerade dadurch ziemlich plakativ.
Die große Kunst des lustvollen Spiels
Wir haben uns dennoch nicht gelangweilt. Wegen des erlesenen Ensembles! Das nimmt sich mit energischer Sympathie seine Figuren einfühlsam zur Brust, gibt ihnen Profil und Tiefe. – Allen voran Tilo Nest als Oma Evelyn; noch immer modebewusst im Second-Hand-Chanel, niemals tuntig, immer gewitzt, klar – oder stürzend in traurige Verwirrung. Daneben Constanze Becker als Mum Hartwichsen. Verlassen und einsam trotzt sie ihrer Verbitterung mit Sarkasmus und Herbheit, ohne dabei in Hartherzigkeit oder gar Zynismus zu versinken.
Kathleen Morgeneyer zeigt als Astrid Schauer ein zwischen mütterlicher Empathie und fraulichem Egoismus elfenhaft irrlichterndes Wesen – mit Ausbrüchen schneidender Härte, ja sogar schlagender Handgreiflichkeit. Und ringt obendrein tapfer um (letzte) Glückserfüllung mit dem brav beamtigen, letztlich kühn küssenden Martin Rentzsch als Vermieter Manfred. Und Stefanie Reinsperger, völlig frei von schwulen oder kerligen Attitüden, stellt als Anton Hartwichsen nicht die nach Sex und Innigkeit lechzende Wuchtbrumme aus, sondern den beweglich einfühlsamen, klugen guten Jungen, der mal wütend, mal verzweifelt ringt um den erschreckend labilen Pepe (Max Gindorff), den schwer Gebeutelten vom Himmelhoch-Jauchzen oder Zu-Tode-Betrübtsein (mit versuchtem Suizid).
Es ist die Kunst lustvollen Spiels, das diesem Herz-Schmerz-Laden Spannung gibt. Und, ja doch, einen Ruck in Richtung Volkstheater.
Leider sind alle Vorstellungen ausverkauft. Sie können sich für kommende Vorstellungen bei uns im Service auf eine Warteliste setzen lassen. Rufen Sie uns an unter 86009351.
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Die mitreißende, nebenbei auch informative historische Zeitreise-Show „Berlin Berlin“ ist wieder in der Stadt. Und präsentiert im Admiralspalast ein grandioses Angebot fürs Ausgehen zum Jahresende. Oder Jahresanfang. Da surrt eine elegante Gute-Laune-Maschine, da schwirren die Hingucker nur so über die Bühne. Tolle Sache für den großen Familienausflug.
Man möchte meinen, der Kultur- und Theaterkritiker und neugierige Berlin-Flaneur Alfred Kerr habe dem Geist dieses fulminanten Abends die Stichworte gegeben. Er schrieb (um 1890) in einem seiner Feuilletons über die inmitten des „Weltkuddelmuddels“ explodierende Metropole: „Wer in einer Stadt leben will, die ein Weltzentrum für alte und moderne Bewegungen darstellt, die ein jugendstarkes Ringen zukunftsfroher Kräfte zeigt, für den wird Berlin die Stadt sein.“ (mehr dazu im Blog Nr. 378 vom 13. Dezember 2021)
Admiralspalast, bis 21. Januar. Hier geht’s zu den Karten.
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Das Kollektiv der Kultur-Enthusiasten, das mit hemmungsloser Neugier unentwegt den Hauptstadt-Kulturbetrieb inspiziert und im Kulturvolk-Blog allwöchentlich (immer montags neu) kritisch darüber berichtet, wünscht seinen lieben Leserinnen und Lesern: Frohe Weihnachten!
Und alles Gute im neuen Jahr 2024! Es möge uns, so die gute Hoffnung, reichlich Theaterglück bescheren.
PLÖTZLICH DENKT MAN THEATER
MAN RIECHT DEN GERUCH
MAN IST FEUER
MAN IST DER HINGERISSENE
DIE BÜHNE IST DAS LETZTE ABER
WENIGSTENS DAS LEBEN
Rainald Goetz
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