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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 458

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

20. November 2023

HEUTE: 1. sTAATSBALLETT BERLIN – „BOVARY“ / 2. KOMISCHE OPER IM SCHILLERTHEATER – CHICAGO“ / 3. KOMÖDIE AM KURFÜRSTENDAMM POTSDAMER PLATZ – „DAS PERFEKTE GEHEIMNIS“

1. Staatsballett - Wunsch und Wirklichkeit

"Bovary" vom Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin © Serghei Gherciu

Ein Walzer sorgt für Märchenglanz. Beim Fest im Schloss eines Marquis öffnet sich für Emma Bovary eine neue Welt. Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch, all das, was die Gattin eines Landarztes nur aus Romanen kennt und in ihrem tristen Dorfalltag vermisst, hier scheint sie es zu finden. Das Feuer der Sehnsucht ist entfacht. Emma wird aus der Wirklichkeit fliehen, mit Hilfe von Liebhabern und einem Leben in Luxus, der das schmale Einkommen ihres Mannes Charles weit überfordert. Es endet in einer Katastrophe.

Der Paartanz im Dreivierteltakt galt lange als anrüchig, war zeitweise sogar verboten. Ähnlich wie der Walzer geriet auch Gustave Flauberts Roman „Madame Bovary“, 1856 veröffentlicht, ins Visier der Zensurbehörde. „Verherrlichung des Ehebruchs“ warf man unter anderem dem Buch vor, das heute zu den Meisterwerken des französischen Realismus zählt.

Die Verbindung von Literatur, Musik und Tanz betont Christian Spuck in seinem Tanzstück „Bovary“. Der Autor, Choreograph und Regisseur lässt aus dem Off Marina Frenk ausgiebig vorlesen. Das böse Ende des Romans steht am Anfang des Handlungsballetts. Emma liegt nach ihrem Selbstmord im Bett, aus dem Mund der Verstorbenen ergießt sich ein Strahl von Flüssigkeit, schwarz wie Tinte. Sinnbild für all die Poesiealben und Modemagazine, die bei Emma die Sehnsucht nach einer illustren Welt weckten, aber ebenso für die Briefwechsel mit ihren Liebhabern und die unzähligen Schuldscheine, welche die Familie finanziell ins Verderben stürzte.


Hoffnungsträger des Hauptstadtballetts


„Bovary“, uraufgeführt in der Deutschen Oper, ist Spucks erste Arbeit als neuer Intendant des Staatsballetts Berlin. Spätestens seit er seine gefeierte Zürcher Kreation des Verdi-Requiems in Berlin vorstellte (mehr dazu im Blog Nr. 436 vom 17. April 2023), gilt er als Hoffnungsträger des leidgeprüften Hauptstadtballetts. Ich bin offen gestanden kein Tanz-Experte. Ob die Positionen und Bewegungen korrekt sind, können andere besser bewerten. Ich kann nur sagen, ob mich die Geschichte berührt, und das tut „Bovary“.

Spuck überwindet Grenzen zwischen Tanz und Ballett, lässt mal auf Spitze, mal in Straßenschuhen oder barfüßig agieren. Er schlägt Brücken zu anderen künstlerischen Disziplinen, zur Literatur, zur Videokunst (Tieni Burckhalter), in den Konzertsaal. Mit dem Schweizer Konzertpianisten Adrian Oetiker spielt das von Jonathan Stockhammer geleitete Orchester der Deutschen Oper Auszüge aus Klavierkonzerten von Camille Saint-Saëns, es erklingt, passend zu den jeweiligen Stimmungslagen des Stücks, Musik von Thierry Pécous, György Ligeti und Arvo Pärt. Und sogar ein Popsong der Pariser Sängerin Camille, geboren 1978. Ein Bezug zur Gegenwart, wie ihn auch Emma Ryott mit ihrer Mischung aus historisch und modern inspirierten Kostümen herstellt. Emma Bovarys Schicksal, etwas anderes sein zu wollen, als sie ist, erscheint ja in Social-Media-Zeiten hochaktuell.

Für die Besetzung der Titelfigur holte Spuck mit Weronika Frodyma eine Tänzerin aus der zweiten Reihe. Begleitet wird sie von Alexei Orlenco als erschreckend gutgläubigem Ehemann Charles. Ihre geheimen Liebeswünsche sollen andere Männer erfüllen, zuerst der Gutsbesitzer Rodolphe (David Soares), danach der jugendliche Léon (Alexandre Cagnat). Beides geht schief, mephistophelisch begleiten Gerichtsvollzieher, Apotheker, Notar und Händler Emmas Untergang. Im von Neonröhren beleuchteten, hinten durch eine große Schiebetür schließbaren Bühnenraum von Rufus Didwiszus erlebt man in großen Ensembleszenen Landhochzeit, Landwirtschaftsausstellung, Adelsball und Theaterrevue.

Es geht in „Bovary“ um Imagepflege, auch für das klassische Ballett. Nach Mee-Too-Debatten und sogar Rassismus-Vorwürfen versucht es Spuck aus der Schusslinie zu nehmen. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.

Deutsche Oper Berlin, 18., 19., 21. und 22. Januar. Hier geht’s zu den Karten.

Die Aufzeichnung der Uraufführung ist bis 18.1.24 in der Arte-Mediathek abrufbar.


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2. Komische Oper - Broadway made in Berlin

"Chicago" in der Komischen Oper Berlin im Schillertheater © Barbara Braun

Meine Güte, was wird das für eine Stromrechnung geben! Eine bewegliche Wand aus 6500 variabel eingesetzten leuchtenden Glühlampen, Kabel und Metall. Ein geniales Bühnenbild hat Michael Levine da entwickelt für das Musical-Vaudeville „Chicago“. Und auch die erste Nummer des Abends, „All that Jazz“ mit einem Tanzensemble, das zur lebendigen Federboa mutiert, ist bereits ein absoluter Hingucker. Kann das auf diesem Topniveau so weitergehen, fragt man skeptisch. Ja, es kann, knapp drei Stunden lang.

Die Komische Oper hat ihr Stammhaus an der Behrensstraße verlassen, renovierungsbedingt. Nach dem epochalen Wasserspektakel im Tempelhofer Flughafen-Hangar mit Hans Werner Henzes „Floß der Medusa“ (mehr dazu im Blog Nr. 450 vom 25. September 2023) nun die fulminante Einweihungsparty im Schillertheater, dessen Zuschauerraum neue schicke rote Sitze zieren, in Berlin kann man ja nie wissen, wie lange man wirklich in der Interimsspielstätte bleiben muss. Nun also der Einstand mit einem Welterfolg vom Broadway, inszeniert vom Ex-Intendanten Barrie Kosky. Der zählt „Chicago“, 1975 uraufgeführt und 1996 überarbeitet, zu seinen „favourites“ seit jungen Jahren.

Dass Kosky brillant mit Musicals umzugehen versteht, hat er schon oft bewiesen. „Broadway made in Berlin“ propagiert er mit zahlreichen Stammkräften selbstbewusst nun auch mit „Chicago“, dem mehrfach verfilmten Dauerbrenner. Nur ein wenig schmutziger als gewohnt. Passend zum Jazz, der die Musik von John Kander prägt, und mit dem Adam Benzwi am Pult des Orchesters der Komischen Oper Ragtime-Feuer entfacht. Die ganz große Show, sie findet im Knast statt. Im berüchtigten Cook County Frauengefängnis bilden Katherine Mehrling als Roxie Hart und Ruth Brauer-Kvam als Velma Kelly spielend, singend und tanzend ein mörderisch gutes Duo.


Satirische Attacke auf Justiz und Medien


Velma ist der Vaudeville-Star, Roxie nur ein Starlet. Doch eins verbindet sie: Beide haben ihren Lover gekillt und blicken in der Untersuchungshaft jeweils ihrem Prozess entgegen. Nicht ohne Hoffnung auf Freispruch! Tatsächlich basiert das Theaterstück „Chicago“ von 1926, nach dem Fred Ebb und Bob Fosse ihr Musical-Libretto verfassten, auf Gerichtsakten. Zwei Mörderinnen wurden damals wegen ihres attraktiven Äußeren und der Medienwirksamkeit freigesprochen.

Gleiches erwarten nun auch Roxie und Velma von den – ausschließlich männlichen – Geschworenen. Support erhalten sie dabei vom aalglatten, hier schwulen Staranwalt Billy Flynn (die vielseitige Musicalgröße Jörn-Felix Alt) und der Yellow Press, vertreten durch Klatschreporterin Mary Sunshine (Countertenor und Bariton Hagen Matzeit).

Hinter Gittern steuert derweil Schnapsschmugglerin Mama Morton (die wunderbar verruchte Pfister-Schwester Andreja Schneider) als durchtriebene Kulturagentin Velmas und Roxies künftige Bühnenkarriere. Doch als beide freigesprochen werden, hat sich die Medienmeute schon auf ein anderes, abscheulicheres Verbrechen gestürzt.

Selbst in der etwas altbackenen deutschen Übersetzung, die noch aus den 1980ern, aus Helmut Baumanns Inszenierung am Theater des Westens stammt, wirkt das satirisch und subversiv. Schräg und zynisch erzählt, mit viel schwarzem Humor. Durchaus ein Kontrapunkt zur gewöhnlichen Musical-Seligkeit. Dass Brecht/Weill die Autoren von „Chicago“ beeinflusst haben, wird in einigen Momenten deutlich.

Das gesamte Ensemble zeigt sich in Bestform. Für Bob Fosse bedeutete weiland das Stück über seine Heimatstadt Chicago den Durchbruch als Choreograph, in einer Zeit, in der die Tanz-Arrangements immer bedeutender für die Musicalinszenierungen wurden. Gleiches trifft hier nun auf die herausragende Arbeit von Otto Pichler zu. Der Choreograph als Co-Regisseur leuchtet am hellsten. Trotz aller Glühbirnen.

Leider sind alle Vorstellungen ausverkauft. Wir hoffen auf künftige Termine.


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3. Komödie - Abschalten geht nur mit Ausschalten

"Das perfekte Geheimnis" in der Komödie, Theater am Potsdamer Platz © Franziska Strauß

Wir alle kennen das. Man möge doch bitte das Mobiltelefon abschalten, um sich und den Nachbarn einen ungestörten Theatergenuss zu ermöglichen. Im Theater am Potsdamer Platz, momentan Spielstätte der Komödie am Kurfürstendamm, endet die Ansage mit dem Zusatz: „Nach der Vorstellung werden sie wissen, warum.“ Denn in „Das perfekte Geheimnis“ spielt das Smartphone eine entscheidende Rolle.

Die Komödie basiert auf einem italienischen Kinoerfolg von Paolo Genovese aus dem Jahr 2016, der in zahlreichen Ländern neu verfilmt wurde. In der Inszenierung von Intendant Martin Woelffer und in Tom Prestings Bühnenbild erweist sich die Geschichte auch als theatertauglich, nicht zuletzt dank des spielstarken Teams mit einigen aus dem TV bekannten Gesichtern.

Vier Freunde, die sich seit Jugendjahren kennen, treffen sich nebst Anhang zum gemeinsamen Abendessen. Was die Karrieren anbelangt, spielen die Herren in unterschiedlichen Ligen. Robert (Tommaso Cacciapuoti) ist Schönheitschirurg, Mark (Tobias Licht) Anwalt. Dagegen hat Ben (Oliver Dupont) gerade seine Stelle als Lehrer verloren, während sich der frisch vermählte Carlo (Karim Chérif) mühsam als Taxifahrer durchschlägt. Bevor die Gesellschaft versammelt ist, haben Gastgeber Robert und seine Frau Eva (Tessa Mittelstaedt) noch Kummer mit Töchterchen Sofia (Nica Heru): Der Teenager will erstmals bei ihrem Boyfriend übernachten und führt Kondome im Handtäschchen.


Vertrackter Vertrauensbeweis


Mark und Charlotte (Henriette Richter-Röhl) können nur kommen, weil seine Mutter zuhause die Kleinen hütet. Da will man sich das Dinner nicht auch noch von nervenden Handys stören lassen. Nun könnte man die Dinger ja einfach nur ausschalten. Doch jemand macht den wahnsinnigen Vorschlag, dass jeder Anruf und jede Nachricht mit allen Anwesenden geteilt werden soll.

Was als Vertrauensbeweis unter Freunden gedacht war, lässt alsbald bürgerliche Fassaden heftig bröckeln, denn alle haben hier ihre unangenehmen Geheimnisse. Vor allem Mark gerät ins Schwitzen, erhält er doch regelmäßig per Mail freizügige Fotos einer „Bekannten“. Bevor das Verhältnis publik werden kann, tauscht er mit Ben die Telefone. Bis sich rausstellt, dass Bens neue Freundin, die angeblich wegen Magenproblemen nicht zum Dinner mitkam, in Wahrheit ein Freund ist. Carlo wiederum ist verkehrsmäßig nicht nur mit dem Taxi mehrspurig unterwegs, obwohl er sich mit seiner Bianca (Jenny Löffler) angeblich so sehnlich ein Kind wünscht.

Das alles funktioniert nach dem Muster der klassischen Salonkomödie. Doch gegen Ende entwickeln die Peinlichkeiten tragische Züge, dass man fast nicht mehr darüber lachen möchte. Kunstkniff der Theateraufführung: Es war alles nur geträumt, woraus sich aber nicht wirklich ein Happy End ergibt. Die Probleme sind ja nicht weg, nur weil sie geheim bleiben. So denkt man auf dem Heimweg: Handy an und alle Fragen offen.

Komödie am Kurfürstendamm im Theater am Potsdamer Platz, 27., 28., 29. und 30. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

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