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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 450

Kulturvolk Blog | Ralf Stabel

von Ralf Stabel

25. September 2023

Dreimal Politisches Theater: 1. Piscator-Preis für Ulrich Matthes / 2. Komische Oper Berlin – "Das Floß der Medusa" /3. Hans Otto Theater Potsdam – "Mephisto"

1. Piscator-Preis für Ulrich Matthes - In eigener Sache

Ulrich Matthes erhält den 35. Erwin Piscator Aaward 2023 © Lothar Lenzen
Ulrich Matthes erhält den 35. Erwin Piscator Aaward 2023 © Lothar Lenzen

Der Schauspieler Ulrich Matthes wurde von der in New York ansässigen Erwin Piscator Award Society mit dem 35. Piscator-Preis ausgezeichnet. Zu den Preisträgern vor ihm gehören Erika Fischer-Lichte, Harold Prince, Robert Wilson, Kurt Masur und weitere herausragende Persönlichkeiten aus dem Theaterbereich.

Über die Bedeutung Erwin Piscators für das moderne Theater des 20. Jahrhunderts sprach einleitend Michael Lahr. Nicht hoch genug sei sie einzuschätzen. Für Bertolt Brecht war Piscator der „größte Theatermann aller Zeiten“. In der Begründung für die Vergabe an Ulrich Matthes, die Gregorij von Leitis verlas, heißt es: "Mit ungeheurer Ausdruckskraft und Präzision verkörpert Ulrich Matthes die unterschiedlichsten Rollen auf der Bühne, im Film und im Fernsehen – ob als Joseph Goebbels in „Der Untergang“, als Abbé Henri Kremer in „Der neunte Tag“ oder als Dorfrichter Adam in „Der zerbrochene Krug“. Mit Piscator verbindet ihn nicht nur sein Geschichtssinn, sondern auch sein Gefühl der Verantwortung angesichts unserer deutschen Vergangenheit und seine politische Wachsamkeit."

Ulrich Matthes las aus Texten von Erwin Piscator, die an Aktualität nichts verloren haben. Über das Verhältnis von Darsteller und Publikum im Theater hatte dieser formuliert, dass es nicht wahr sei, dass der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Schauspielers im Zentrum der Bühne läge, sondern immer beim Publikum, für das er spiele.
Anschließend sprach der Preisträger über seinen Weg zu Erwin Piscator. Klar wurde, hier sind zwei – Piscator und Matthes –, die Theater explizit als einen Ort der politischen Auseinandersetzung mit der Zeit verstehen.
Theater muss deshalb nicht ausdrücklich als politisch ausgestellt werden. Jede Konflikt
gestaltung und -lösung, jede Handlung für, mit oder gegen jemanden, jede Lüge und Intrige ist auch ein Kommentar zu uns und der Zeit, in der wir leben. Erwin Piscator beschrieb seine Probenarbeit in Bezug auf das Politische selbst so: „Ich erinnere mich, dass auf den Proben ein großer Teil der Zeit darauf verwandt wurde, jedem Schauspieler die politische Bedeutung des Textes auseinanderzusetzen. Allein aus dieser geistigen Beherrschung des Stoffes heraus konnte der Schauspieler seine Rolle wesentlich gestalten.“

Dass in Anwesenheit der Staatssekretärin für Kultur
Sarah Wedl-Wilson der Veranstaltungssaal in unserem Haus in der Ruhrstraße 6 im Rahmen der Preisverleihung in Piscator-Saal umbenannt wurde, ist eine Würdigung der Verdienste Piscators, der von 1924 bis 1927 an der Volksbühne am damaligen Bülowplatz und dann nach seiner Rückkehr aus dem Exil von 1962 bis 1966 als Intendant der Freien Volksbühne im Westteil Berlins tätig war.

Nächste Veranstaltungen im Piscator Saal: Hier geht's zu den Karten.
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2. Komische Oper Berlin im Flughafen Tempelhof - Unvergessene Theatermomente

"Das Floß der Medusa" in der Komischen Oper Berlin im Flughafen Tempelhof © Jaro Suffner

Bericht von der Generalprobe

Die Inszenierung findet in einem monumentalen Rahmen statt: in einem Hangar des Flughafens Tempelhof. Und dieser Ort ist sehr gut gewählt für dieses musikalische Drama, dem eine schreckliche, wahre Begebenheit zugrunde liegt. 1816 läuft die Fregatte „Medusa“ vor Afrika auf Grund. Die vornehme Gesellschaft rettet sich in Boote und überlässt 154 Menschen auf einem Floß der brennenden Sonne in den Fluten des Ozeans. Nur zehn werden dieses Grauen überleben. Im Pariser Louvre hängt ein Gemälde von Théodore Géricault aus dem Jahr 1819, durch das die Tragödie heute vor allem bekannt ist.

Zwischen zwei Tribünen für je 800 Zuschauer*innen befindet sich ein rechteckiges Bassin (Bühnenbild:
Rainer Sellmaier). Regisseur Tobias Kratzer hat darin das Gemälde mit den Darsteller*innen nachgestellt. Sie verharren dort bewegungslos, während die Zuschauer*innen ihre Plätze einnehmen. Was dann in den nächsten 70 Minuten passiert, ist der Horror; erzählt in bester epischer Theater-Tradition von Idunnu Münch als „Charon“, die sich in einem Schlauchboot auf diesem Wasser befindet (Libretto: Ernst Schnabel).

Es gibt in der verdichteten Zeit dieser Aufführung viele Momente, die unter die Haut gehen und unvergessen bleiben. Drei seien hier hervorgehoben:

Als sich die Menschen – noch vollzählig und hoffnungsvoll – auf dem Floß und in ihrer Lage einzurichten beginnen, betritt auf der Gegen-Seite ganz langsam und mit großer Selbstverständlichkeit
Gloria Rehm als „La Mort“, der Tod, das Wasserbecken und bewegt sich auf das Floß zu. Die sich dadurch als explosionsartige Panik entladende Todesangst der Menschen gehört zu dem Eindrücklichsten, was ich je im Theater erlebt habe (Choreografie: Marguerite Donlon). Es ist zutiefst erschütternd, wenn dann als erstes die Kinder über Bord in den Tod gehen.

Während dieses von vornherein ungleichen Kampfes ums Überleben geht
Günter Papendell als „Jean-Charles“, der Anführer der Schiffbrüchigen, auf den Tod zu, umarmt ihn, und beide tanzen einen schaurig schönen Pas de deux.

Am Schluss öffnet sich das riesige Tor dieses Hangars und gibt den Blick frei auf das Flugfeld. Dort steht ein Wagen mit der Leuchtschrift „Follow me“. Die Überlebenden verlassen uns und wählen den Weg ins Freie. Diese Frei-heit, wo wird sie sein?

Hans Werner Henze hat dieses vorsätzliche Versagen von Menschen in den Jahren 1967 und 1968 komponiert; in einer Zeit also, als die bestehenden Herrschaftsgefüge auch in der alten Bundesrepublik mit allen Mitteln infrage gestellt und bekämpft wurden. So ging denn auch die geplante Uraufführung am 9. Dezember 1968 in Hamburg in den Grabenkämpfen dieser Zeit unter.

Sein
„Oratorio vulgare e militare“ ist ein außergewöhnliches Klangphänomen. Unter der musikalischen Leitung von Titus Engel klingt es in der Hangar-Halle wie in einer Kathedrale. Die Wechsel und die Differenz zwischen den klaren Erzählmomenten, den solistischen Gesangs-Partien und dem überwältigenden Klangvolumen des gesamten Orchesters bei der Intonierung der anhaltenden, sich steigernden Katastrophe sind extrem. Die Chorsolisten der Komischen Oper, das Vocalconsort Berlin und der Kinderchor des Staats- und Domchores agieren auch aus dem Publikum heraus und zeigen so: Die Übervorteilten, die zugrunde Gehenden, das sind wir.

Dass Henze seine Komposition dem kürzlich zuvor ermordeten Che Guevara gewidmet hat, ist nur zu verständlich. Dass seine Komposition mit dem auffordernden „Ho Ho Ho Chi Min-Rhythmus“ endet, ebenso.

Die Bezüge zur heutigen Situation – das Boot ist voll – sind so unübersehbar, dass es keiner aktuellen szenischen Anspielungen bedurfte. Dass diese musiktheatralische Entlarvung von Machtmissbrauch in diesem monumentalen Bau aus der Zeit des Nationalsozialismus stattfindet, ist ebenso eindrücklich, wie es unfassbar ist, dass nur wenige Meter weiter im nächsten Hangar diejenigen untergebracht sind, die die Flucht – auch übers Meer – gewagt und überlebt haben. Ob sie ahnen, dass sich ihr Schicksal künstlerisch überhöht in nächster Nähe von neuem abspielt?

Leider sind alle Vorstellungen für diese Spielzeit ausverkauft. Wir hoffen auf die nächste Saison.


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3. Hans Otto Theater Potsdam - Lehrstunde in Opportunismus

"Mephisto" im Hans Otto Theater Potsdam

Zu Beginn der Vorstellung fragte jemand hinter mir: „Warum ist das Stück so lang?“. Immerhin dreieinhalb Stunden, die bei der Premiere noch überboten wurden. Man hat sich einiges vorgenommen. In dieser langen Zeit wird wahnsinnig viel Text gesprochen. Der ganze Gustaf Gründgens, hier Hendrik Höfgen, soll aufgezeigt werden und sein Umfeld, die Umstände seiner Zeit ebenso. So treten also auch auf: Erika, Klaus und Thomas Mann, Emmy Sonnemann und ihr Gatte Hermann Göring und viele andere – meist mit den Rollen-Namen, die der Roman „Mephisto“ von Klaus Mann aus dem Jahr 1936 vorgibt. Die Handlung setzt 1926 ein und endet nach dem zweiten Weltkrieg. Hendrik Höfgen hat es geschafft, durch alle Zeiten hindurch Karriere zu machen. Es ist eine Lehrstunde in skrupellosestem Opportunismus. Und weil dieser keine Einzelerscheinung ist, hat der Regisseur Sascha Hawemann die einleuchtende Idee, die Rolle des Hendrik Höfgen mal von Jan Hallmann, mal von Charlott Lehmann, mal von Franziska Melzer, mal von Henning Strübbe, aber auch mal unisono vom ganzen Ensemble spielen zu lassen. Denn die Hendrik Höfgens stecken überall, jeder von uns könnte ein Hendrik Höfgen sein. So wird die Rolle wie eine heiße Kartoffel herumgereicht. Insbesondere Henning Strübbe hat mich als Dandy-Höfgen der 1920er Jahre überzeugt und Jan Hallmann in der Figur des NS-Emporkömmlings.

Er wolle doch nur spielen, schau spielen versichert dieser Höfgen wieder und wieder. Mehrfach wird die Hauptfigur als „nervös und überspannt“ charakterisiert. Das färbt auf die gesamte Inszenierung ab, die – wie unsere heutige Welt eben auch – nervös und überspannt ist: „Unsere Zeit ist idiotisch“, heißt es dazu im Stück. Wer würde das heute anders sehen?

Guido Lambrecht und Janine Kreß führen als Klaus und Erika Mann – zwei verzogene, überdrehte und drogenkonsumierende Wohlstands-„Kinder“ – erzählend und erläuternd durch den Reigen der Eitelkeiten des jungen Provinz-Schauspielers, der da noch anfangs stöhnt: „Ich bin so schlecht“, um wenig später als gefeierter Staatstheater-Intendant im „Dritten Reich“ Göring zuzurufen: „Ich mach’s!“. Und der schlussendlich als Nachkriegs-Theaterleiter in der Bundesrepublik bei der Eröffnungsrede des Düsseldorfer Schauspielhauses gerade den Sponsoren aus Industrie und Finanzwelt dankt, die genauso wie er bereits vor 1945 sehr aktiv waren.

Zwischendurch wird die Handlung durch meist englisch-sprachige Songs unterbrochen. Sicher gibt es bei diesen Kontemplationen auch die Möglichkeit, Assoziationen zum Bühnengeschehen herzustellen?
Eine Nebenfigur in Roman und Theaterstück ist der junge Hans Miklas, gespielt von
Paul Sies. Er ist begeistert von der Idee eines nationalen Sozialismus‘ und kann dies auch begründen. Von den anderen wird er konsequent ausgegrenzt. Dass und warum auch er von dem dann kommenden Nationalsozialismus enttäuscht wird, ist in der Inszenierung sehr gut herausgearbeitet.

Hans Otto, im Stück Otto Ulrichs, ist der eigentliche Revolutionär, der von der SA bereits am 14. November 1933 verhaftet und tagelang gefoltert wurde. Am 24. November 1933 starb er nach einem Sturz aus dem 3. Stock der Berliner Gestapo-Zentrale. Bis heute ist unklar, ob er sich selbst erlösen oder ob man es so aussehen lassen wollte. Gut, dass
René Schwittay als Hans Otto in der Textfassung von Sascha Hawemann gerade in diesem Theater kurz vor Schluss in einem ergreifenden anklagenden Monolog das Schicksal des Hans Otto mahnend ins Publikum schreien darf.

Klaus Mann resümiert resigniert am Ende, dass sein Roman „Mephisto“ in Deutschland nach dem Krieg verboten worden sei. In der Bundesrepublik wurde er tatsächlich erst 1981 verlegt. In der DDR konnte man ihn aber bereits seit 1956 lesen.

Gäbe es eine reduzierte Tournee-Fassung, sollte diese auf Reisen gehen – vor allem in Schulen. Es ist höchste Zeit.

Hans Otto Theater Potsdam, 30. September, 8. Oktober, 25. November. Hier geht’s zu den Karten.

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