Heute: 1. Komische Oper Berlin – „Hänsel und Gretel“ / 2. Berliner Ensemble – „Spielerfrauen“ / 3. Hans Otto Theater Potsdam – „Blutbuch“
Ein Probenbesuch
Das Märchen beginnt so: „Und einmal, als große Teuerung ins Land kam …“ – aktueller geht’s nimmer. Wer kennt nicht das Schauermärchen von den Eltern, die sich gezwungen sehen, ihre eignen Kinder im Wald auszusetzen und damit dem Hungertod zu übereignen? Die Urfassung von 1810 hat im Laufe der Jahre Anpassungen an den „Zeitgeschmack“ erfahren. So ist aus der Mutter eine Stiefmutter geworden, weil deren Verhalten wohl doch zu grausam für eine Mutter wäre. Aber am Umgang mit der „Hexe“ hat sich seit über 200 Jahren nichts geändert. Oder?
Die Geschichte mit dem bekannten furchtbaren Ende der Hexe hat Engelbert Humperdinck zu seinem „Kinderstubenweihfestspiel“ inspiriert, das 1893 am Weimarer Hoftheater unter der musikalischen Leitung von Richard Strauss uraufgeführt wurde. Viele der Melodien in dieser Oper sind bekannte Kinderlieder: Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?, Ein Männlein steht im Walde, Schwesterlein, hüt’ dich fein! Und: Brüderlein, komm tanz mit mir.
Regisseurin Dagmar Manzel meinte vorab, es sei ja ein bisschen gruselig zuzuschauen und zuzuhören. Aber sie werde Hänsel und Gretel, diese Märchenoper, als das erzählen, was sie ist: als Märchen eben. Als Märchen über die Kinder, die in einen Wald kommen, der sie verzaubert – mit unbekannten Wesen und der Hexe als großer Verführerin. Diese stellt sich auch als genau diese Verführerin vor: „Ich bin Rosina Leckermaul, höchst menschenfreundlich stets gesinnt, unschuldig wie ein kleines Kind.“ Allerdings schließt sie an, dass sie Kinder „zum Aufessen“ gernhat. Was sagt man nicht alles so unbedacht daher! Sie lockt die hungrigen Kinder mit Torten, Marzipan, Kuchen und weiteren Leckereien in ihr Häuschen. In der Inszenierung ist dieses klitzeklein, aus Gold und kann sogar tanzen.
In der Opernhandlung werden die Kinder nicht ausgesetzt, sondern zum Beerensammeln in den Wald geschickt, wo sie sich schlichtweg verlaufen. Die besorgten Eltern suchen sie noch, können sie aber nicht finden.
In der umjubelten Premiere sangen und spielten Alma Sadé die Gretel, Susan Zarrabi den Hänsel und Daniel Kirch die Knusperhexe. Günter Papendell war der Vater und Ulrike Helzel die Mutter Gertrud. Julia Schaffenrath trat als Sand- und Taumännchen auf, der Kinderchor der Komischen Oper sang und das Orchester der Komischen Oper Berlin spielte unter der Leitung von Yi-Chen Lin.
Aber, und das ist wichtig in dieser Inszenierung: Es wird getanzt, getanzt, getanzt. Das Tanzensemble der Komischen Oper und die Schülerinnen der TanzZwiEt Berlin als Hexen, Engel und fabelhafte Wesen geben auf ihre Weise der Inszenierung in den Choreografien von Christoph Jonas Schwung und kindlichen Zauber. Paulin Raatz am Trapez trägt als Engel die Bewegung auf wundersame Weise dann noch einmal in die Vertikale.
Dagmar Manzel inszeniert mit einer fantasievollen Bilderwelt (Bühne: Korbinian Schmidt, Kostüme: Victoria Behr) und geschickter Figurenführung, besonders die der Hexe, ein wirklich eindrückliches Theater-Erlebnis. Auch wenn sich nicht jede Idee erschließen, nicht jede Szene enträtseln lassen sollte, ist der Gesamteindruck doch märchenhaft – und genau das sollte er ja auch sein. Eingebettet ist die eigentliche Handlung noch in eine Rahmenhandlung, die dem Geschehen etwas Magisches, Traumhaftes verleiht.
Als der Startänzer Alexander von Swaine (1905-1990) als Kind diese Oper sah, musste er aus dem Theater genommen werden. Sein lauthals verkündetes Mitleid galt der Hexe. Eines muss man Gretel jedoch in dieser Hinsicht – nicht nur juristisch – zugutehalten: Von den eigenen Eltern dem Hungertod überlassen, der mörderischen Fresssucht der Hexe ausgeliefert, handelt sie im richtigen Moment alternativlos, im Affekt und in Notwehr und rettet so schließlich ihr Leben und das ihres Bruders. Seitens der Komischen Oper heißt es: „Doch in größter Not beweisen Hänsel und Gretel ihre ungeheure Stärke und besiegen gemeinsam das Böse.“
Hörenswert. Aber viel mehr noch: sehenswert!
Komische Oper, bis 21. April. Hier geht’s zu den Karten.
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Im Text des Programmhefts ist von heteronormativer Rollenverteilung, von ökonomischem Druck, öffentlichem Image, Machtgefälle, Stigmatisierung, erlittener Gewalt und fehlender Gleichberechtigung im goldenen Käfig die Rede.
Hätte ich das vorher gelesen, wäre ich möglicherweise nicht hingegangen. Dann wäre mir allerdings ein wunderbarer Theaterabend verborgen geblieben. Denn Fußball ist das ganz große Drama unserer Tage. Hier werden Sieg oder Untergang Einzelner und von Nationen verhandelt. Ein riesiges Publikum fiebert mit und kommentiert lautstark jeden Tritt und Fehltritt. Genau wie im antiken Theater vor mehr als 2000 Jahren.
Lena Brasch und Sina Martens haben sich in ihrem Stück aber in diesem Umfeld einem speziellen Thema gewidmet: den Spielerfrauen. Doch wer erwartet, dass nur diese auftreten, wird aufs Schönste überrascht.
Es ist ein Abend voller kluger und witziger Monologe und Dialoge um das Thema Fußball, d.h. um Geld und Ruhm, aber auch Sorgen und Nöte der Beteiligten. Die Szenen sind nicht gleichermaßen stark, aber die Mischung macht‘s.
Und immer wieder gibt es überraschende Pointen. So gelingt es einem Fan (Gabriel Schneider) mit seiner Freundin (Sina Martens), in Kontakt mit dem angehimmelten Fußball-Star zu gelangen. In einer vom Fan unbeobachteten Situation verschwinden Star und Freundin in den Katakomben des Stadions. Der „Gehörnte“ findet die beiden in flagranti. Seine Reaktion löst heftigste Heiterkeit aus: „Was hat sie, was ich nicht habe?“ Die Szene zeigt mit Humor, welche Tabus fallen und wozu Fans fähig sind, um ihren Idolen nahe zu sein. Wie muss es denjenigen ergehen, die sich als Spielerfrauen dauerhaft an der Seite eines solchen Stars in der Öffentlichkeit behaupten müssen. Wie muss es allerdings erst denjenigen ergehen, die als Spielermänner jegliche Öffentlichkeit meiden (müssen)?
Besonders einprägsam wird es, wenn die sogenannten Verschwiegenheitsklauseln der Spielerfrauen thematisiert werden. Sie müssen sich alles gefallen lassen: Demütigungen, Fremdgehen, Schläge – und dürfen bei Strafe nicht darüber reden.
In einer Badewannen-Szene werden Luxus-Problemchen zwischen Spieler und Frau verhandelt. Er wird dabei als kompletter Dummkopf dargestellt. Muss das sein? Kann das sein? Könnten wir eventuell auch anerkennen, was Körper, Geist und Seele eines Spielers in 90 Minuten leisten und erleiden – auch davor und ein Leben lang danach durchmachen?
Ich frage mich nicht, warum sich Frauen in die Position von Spielerfrauen begeben. Gold blendet und Liebe macht blind. Aber ich frage mich: Warum verbleiben sie in diesem Käfig, wenn sie ihre missliche Lage erkannt haben? Warum gelingt den Spielerfrauen nicht, was Hänsel und Gretel schon vor über 200 Jahren gelang – die Selbstbefreiung?
König Fußball“ kommt hier mit klugen Texten auf den Prüfstand, weil es „in Wahrheit schlicht und ergreifend ein Elitesystem ist. Das sich alles, was es will, aussucht und den Rest verschlingt“, heißt es im Programmheft.
Berliner Ensemble, 23. und 24. März. Karten direkt beim BE.
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Die Vorlage der Inszenierung ist der gleichnamige Roman von Kim de l’Horizon. „Die Erzählperson Kim fühlt sich fremd in ihrem Körper angesichts einer Welt, die nach eindeutigen Zuordnungen verlangt und Menschen in strikter Zweiteilung entweder als Mann oder Frau kategorisiert. Kim passt nicht hinein in diese Schemata.“
Folglich kommt es zur Selbstfindung durch Sex. Wie auch sonst, denn das ist nur folgerichtig bei dieser Infragestellung der eigenen sexuellen Identität. Soweit die Ausgangslage. Im Text wird dann über sich selbst und die Familie reflektiert. Aber Theater-Texte liefern als Sprache normalerweise die Vorlage für Handlungen auf der Bühne. Passt eine Selbstvergewisserung also für die Szene?
Den Regisseur Kieran Joel interessierte diese „komplexe Verhandlung von Körper, Identität und familiärer Prägung“. Er möchte dies mit Verantwortung und auf respektvolle und reflektierte Art und Weise erzählen. Wie nun geht das? Kim, das vorerst letzte Glied einer Familienkette, wird von einem Kind (Nadine Nollau) und zwei androgynen Wesen (Charlott Lehmann und Paul Sies) gespielt. Da die Ausführungen zu den sexuellen Erfahrungen mehr von ihm als von ihr vermittelt werden, bekommt das Ganze einen schwulen Touch, weil auch ein kostümierter Schauspieler am Ende immer noch ein Mann ist. Und wenn dieser detailliert und ausgiebig berichtet, wie, wann, warum und wie oft er sich Männern hingibt, erscheint das nicht mehr so richtig glaubhaft „nonbinär“.
Seine sich abrackernde Mutter wird von Janine Kreß gespielt, die schlussendlich einen hin- und mitreißenden Monolog über unsere Welt, diesen „Saustall von einem Stern“, ins Publikum schleudert. Großartig!
In wechselnden Rollen, darunter auch der des nationalsozialistischen Landschaftsplaners Heinrich Wiepking, ist Jan Hallmann zu erleben. Wandelbar eben. Er erzählt uns etwas über die Historie der Blutbuche. Warum diese im Stück thematisiert wird, blieb zumindest mir ein Rätsel. Gar nicht rätselhaft ist die riesige auf der von Barbara Lenartz gestalteten Bühne hingestreckte nackte Figur der Großmutter. Aus ihr und ihren Vorfahrinnen entsprang all dies Leben mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Verwandlungen und Verwirrungen. Im Programmtext heißt es, sie sei das Fundament für Traumata, Geschlechterrollen und Klassenzugehörigkeit.
Die Inszenierung ist eigentlich ein Abend für die ganze Familie, von der Großmutter bis zum Enkel. Eigentlich. Wären da nicht die ausgiebigen Beschreibungen von sexuellen Fantasien oder von fantastischem Sex. Wenn Sie also einen familiären Theaterbesuch planen, sollten sich die Großeltern noch erinnern können und die Enkel schon eine Ahnung davon haben, was Sex sein könnte.
Übrigens meint der Regisseur, dass „das individuelle Schicksal einer nonbinären Person zu einem Prisma wird, durch das fundamentale menschliche Fragen betrachtet werden“. Aha? In meiner Ost-Berliner Jugend hieß es dazu – gerade von den Altvorderen – mit einem kennenden und anerkennenden Augenzwinkern: Ein bisschen bi schadet nie. Mit der sogenannten Wende ist auch diese Leichtigkeit im Umgang mit der eigenen Sexualität und der der Anderen den Bach runtergegangen? Kim gelingt, was Hänsel und Gretel schon vor über 200 Jahren gelang, dadurch, dass er/sie/es sich durch die Selbstreflexion von Zwängen, Normen und Erwartungen befreit.
Das Buch wurde mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Für diejenigen, die Bücher nicht lesen, sondern hören, gibt es bekanntlich Hörbücher. Diese Inszenierung ist ein Hör-Seh-Buch.
Hans Otto Theater Potsdam, Reithalle, 31. Januar und 7. März. Hier geht’s zu den Karten.
1. Komödie Therapie in Eigenregie
2. Theater an der Parkaue Sein eigenes Ding machen
3. Vaganten Vorausschau auf „Genannt Gospodin“
1. Komische Oper Selbst gerettet, aus höchster Not!
2. Berliner Ensemble Im goldenen Käfig gefangen?
3. Hans Otto Theater Potsdam Im eigenen Körper gefangen?
1. Berliner Ensemble Liebe und Hiebe
2. Schaubühne Mischpoke im Knast der Traumata
3. Volksbühne Herzchen-Idyll mit Atombombe im Schuhkarton
1. Staatsoper Verloren in der Liebeswelt
2. Neuköllner Oper Fit bis zum Exitus
3. RambaZamba Der diskrete Zwang der Bourgeoisie
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“