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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 508

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

10. Februar 2025

HEUTE: 1. Gorki – Theater „Carmen“ / 2. Berliner Ensemble – „Der Lügenprinz“ / 3. Gorki Theater – „Vatermal“/ Extra-Tipp: „Die Bettwurst“ – Bar jeder Vernunft

1. Gorki - Man lacht, muss schlucken, aber auch weinen

"Carmen" im Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel MAIFOTO

Die Männer liegen ihr zu Füßen; sie tanzt ihnen auf der Nase: Carmen. Personifizierte Männerfantasie, Ikone weiblicher Selbstbestimmtheit, kühn nonkonformistisch, gefährlich freiheitlich, traumschön und sexy. Was für ein Weib! Das diesmal ein Mann verkörpert; ein Roma-Mann. Ladylike, königlich. Es ist der schwedische Schauspielstar Lindy Larsson. Ein baumlanger Kerl; von oben bis unten hauteng in Rosa mit rosa Haaren und wuchtigem Bariton. Auch traumschön und sexy.

Sein/ihr unglücklich fanatischer Liebhaber, der brave Soldat José in knallgelber Uniform, ist die Schauspielerin Via Jikeli. Zierlich, schüchtern, drei Köpfe kleiner als Carmen; ein ergreifender, eindringlicher Mezzo. – Was für Gegensätze. Gräben. Aber auch (toxische!) Brücken. Eigentlich wie bei Georges Bizet, Henri Meilhac und Ludovic Halévy.


Queer, parodistisch und todernst


Regisseur Christian Weise hat das ikonografische Opernpaar Carmen-José in seiner queer-parodistischen, intelligent kurzgefassten Adaption des weltberühmten französischen Opernklassikers (1875) zwar antiklassisch besetzt; freilich ohne die dramatische Grundkonstellation aufzulösen.

Die Geschlechter der Darsteller, ihre Rollenbilder und Stimmfächer sind also verfremdend verschoben. Auch bei Nebenfiguren: Den rauen Kneipenwirt Lillias Pasta gibt Catherine Stoyan, Till Wonka stolziert als Torero dickbäuchig daher, Riah Knight trägt meterlange Blondzöpfe als gewiefte, leider hoffnungslos Verlobte Josés. Dennoch entwickelt sich erstaunlicherweise keine Chaosveranstaltung.


Stereotype gewitzt hinterfragt


Vielmehr entsteht ein hochgradig unterhaltsames artifizielles Gesamtkunstwerk, das Tradiertes aus gegenwärtiger Sicht fein ironisch kommentiert. Gewisse Klischees werden gewitzt hinterfragt. Einerseits durch die subtile Darstellungskunst des Ensembles. Anderseits durch sarkastische, per Video auf die strahlend weiß ausgeschlagene Bühne hingeworfene Bemerkungen und Karikaturen im graphic-novel-Stil (die tolle Bühnenbildnerin Julia Oschatz). Dazu passend im Kontrast die farbenfrohen, der Commedia dell’Arte entsprungenen Kostüme von Lane Schäfer.

Das Innige, Tragische und auch Komische dieser im Kern emanzipatorischen Geschichte liest man – großes Kunststück! – aufregend ernst. Und zeitgenössischer als in manch einer Regietheater-Anstrengung an bedeutenden Opernhäusern.


Wundersames Gesamtkunstwerk


Dass Carmen gelegentlich aus ihrer Rolle heraus an die Rampe tritt und auf Englisch diverse antirassistische und feministische Verlautbarungen vorträgt, verfasst von Lindy Larsson und Riah Knight, das hätte man lassen können. Zumal die Übersetzungen auf den beiden Monitoren in den Ecken unleserlich sind. Stört aber auch nicht diesen wundersamen Hybrid aus Comic, Camp, Burleske, Kammeroper nebst einer Prise Drag-Show – heutzutage eine modische Pflicht, die Larsson mit faszinierender Grandezza performt. Ohne im souverän Triumphierenden das Schmerzlich-Menschliche der Figur zu verraten. – Man darf lachen, muss schlucken, aber auch weinen.

Natürlich auch: Weil die Partitur mit ihrer Überfülle hinreißender Hits sooo schön klingt. Gerade auch im grandiosen, Modernes nicht verleugnenden Arrangement von Jens Dohle (Chanson, Schlagerhaftes, Latino-Rhythmen). Mit Steffen Illner (Kontrabass, Cello), Devan Jovanovic und seinem betörenden Akkordeon sowie Jens Dohle an Klavier und Schlagzeug. Der ganze vitale Bizet auf ganz eigene Art.

Macim Gorki Theater, 11. und 12., sowie 25. und 26. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


***

 

2. Berliner Ensemble - Petitesse in der Pappkiste

"Der Lügenprinz" im Berliner Ensemble © Moritz Haase

Was ist der Mensch? Die ewige Frage umspielt Henrik Ibsen in seinem ungestümen, heißkalten Lebensleporello aus greller Abenteuer-Kolportage, nihilistischer Daseinsreflexion und zynischer Gesellschaftssatire „Peer Gynt“. Dieser nordische Bursche, ein Saft- und Kraftkerl zwischen Faust und Don Quixote, wird verglichen mit einer Zwiebel: Lauter Schalen, kein Kern.

Selbstsüchtig folgt Peer dem Motto „Sei dir selbst genug“. Und pfeift auf der Bürger pädagogisches Ideal „Werde du selbst“. Das Herzchen Solveig verlässt er immer wieder. Nur über „Umwege“, nur „drumherum“ statt „mittendurch", könne er zu ihr. Und tobt als Geschäfte machender Egomane um die Welt.
Peer Gynt“, das moralisierende Märchen und philosophierende Ideendrama, die ätzende Gesellschaftssatire, dieses so staunende wie erstaunlich analytische, auf Großbühnen stundenlang sich hinziehende Monumentaltheater aus Sagen- und Wirklichkeitswelt von Henrik Ibsen (1876) inszenierte jetzt im Rahmen des Laborprogramms WORX im BE-Werkraum Lucia Wunsch – und zwar als wortkarges 45-Minuten-Minimaltheater „nach“ Ibsen mit Texten von Hannah Zufall.

Und weil Peer auch ein Spinner ist, der sich selbst froh in die Taschen lügt, trägt die kurze Veranstaltung den hübschen und neugierig machenden und am Ende wenig einlösenden Titel „Der Lügenprinz“.


Keine Satire, kein Staunen


Dessen Welt ist jetzt eine begehbare Pappkiste mit wenig Platz (Katja Pech). Auch nicht, um der prinzlichen Lügerei genauer nachzugehen. Und schon gar nicht ätzt Satire im Karton oder wird gestaunt. Die Weltreisen entfallen, und dem Philosophischen genügt der Verweis auf die Zwiebel.

Zu sagen, das streng artifizielle, gelb-rot ausgeleuchtete Kleinstkunstwerk sei die Perfomance eines Peer-Gynt-Gerippes, wäre übertrieben. So wie die Annonce der Regisseurin, man begebe sich mit dem Prinzen „auf eine Reise ins Innere eines Lügners“.

Immerhin, die puppenähnlich dressierten Spieler
Constanze Becker, Paul Herwig, Amelie Willberg, gewandet in schicke, an Privatschul-Uniformen erinnernde Kostüme (Svenja Kosmalski) verlautbaren am schnellen Schluss die alte Weisheit, dass des Menschen Streberei letztlich nix sei.

Von Peer bleibe „höchstens ein blitzender Knopf an der Weste der Welt", so heißt es bei Ibs
en.

Berliner Ensemble, werkraum. Folgetermine stehen noch aus.


***

3. Noch mal Gorki - Herzensschwer, bittersüß

"Vatermal" im Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel MAIFOTO

Es ist noch nicht lange her, als Ümran abgehauen ist; denn ihr Zuhause bei einer Tante, das war kein Zuhause. Und das Dorf tief in der Türkei, wo sie mit den Eltern lebte, war durch Erdbeben zerstört. Also gingen Mama und Papa nach Deutschland – ohne Ümran. Sie wurde untergebracht bei der lieblosen Verwandten, wo das Kind nicht glücklich wurde. Endlich, als Volljährige, da packte sie ihre Sachen und folgte den Eltern Ende der 1970er Jahre nach Gelsenkirchen. Im Dönerladen fand sich ein Job. Es war harte Arbeit, war Schinderei.


Verlassenheit, Verlorenheit


Dann Silvester anno 1982: Big Party, Tanzen, Depeche Mode und ein schmucker Mann namens Metin. Das große Glück! Zwei Kinder kamen, Aylin und Arda, doch Papa Metin verschwand eines Tags. Nach einem der vielen gewalttätigen Kräche. Und hinterließ einen Berg Schulden (die verdammte Spielsucht!). Da stand sie da, verlassen, verloren, mit den zwei Kindern und kaum Geld. Ümran griff zur Flasche. Und konnte sie lange nicht loslassen.

Tochter Aylin übernahm eine Pflegefamilie, Arda, der künstlerisch begabte Sohn, hielt durch, verfolgte unbeirrt seine Ambitionen, ließ die Kumpels hinter sich, von denen die meisten im Knast landeten oder in der Abschiebe. Er verließ Gelsenkirchen und ging nach Berlin. Ein Literaturstudium, um Schriftsteller zu werden.


Höhenflüge und Abstürze


Was für eine Familiengeschichte! Was für Daseinskurven zwischen gegensätzlichen Welten, zwischen euphorischen Höhenflügen und grauenvollen Abstürzen, schwerem Leid, wärmender Hoffnung, eiskalter Enttäuschung. Wahrlich ein dramatischer Stoff für Necati Öziris Roman „Vatermal“, vielgelesen, in allen Feuilletons gefeiert und platziert auf der Shortlist vom Deutschen Buchpreis 2023.

Im Mittelpunkt von Öziris verzweigter Erzählung, es ist die eines Sohnes der ersten Generation türkischer Einwanderer, steht die traumatisierte Mutter-Sohn-Beziehung Ümran-Arda und das schwärende Wundmal, das Vater Metin einst in die daraufhin zerrissene Familie schlug.

Regisseur Hakan Savas Mican ist berühmt für seine großartigen Adaptionen von Romanen aus dem längst zu Deutschland gehörenden migrantischen Milieu. Im Gorki beispielsweise „Unser Deutschlandmärchen“von Dincer Gücyeter; demnächst beim Berliner Theatertreffen (mehr dazu im Kulturvolk-Blog Nr. 483 vom 27. Mai 2024).

Für „
Vatermal“ filterte Mican signifikante Szenen und fügte sie zu einer Art theatralischem Skizzenblock. Die einzelnen Blätter sind kontrapunktisch verbunden durch packend gestaltete musikalische Nummern, begleitet von Cello und Percussions (Kristina Koropecki, Mascha Juno).

Das faszinierende Dreier-Ensemble
Sesede Terziyan (Mutter Ümran), Flavia Lefèvre (Tochter Aylan) und Doga Gürer (Sohn Arda) singt solistisch oder chorisch; dann spielt es wieder monologisch oder im Dialog Episoden, Anekdoten, Geschichten aus dem doch erschütternd harten Leben der drei. Da fallen Tiefernstes, Schmerzlichstes bis hin zum Tod, Aggression, Wut, Bitterkeit und Verbitterung zusammen. Aber auch schüchternes einander Nähern und Verzeihen, Zartheit und trotzige Lebenslust.


Drama im Entertainment


Das alles in einer Art Revue, in der Texte und Musiken, Tempi und Lautstärken mit dramatischer Finesse arrangiert sind. Passenderweise auf einer leuchtend rot ausgeschlagenen Showbühne. – Was schwer zu machen ist, hier gelingt’s: Das Aufblättern schicksalsschwerer Lebensläufe ohne theatralisches Ausmalen einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Landschaft. Denn alles ist empfindsam gebunden ins Entertainment. Ein großartiger Abend. Herzbewegend.

Maxim Gorki Theater, 16. Februar und 6. März. Hier geht's zu den Karten.


Extra-Tipp: Bettwürste für alle

Zusammen mit Anna Mateur und Heiner Bonhard feiern wir in dieser grotesk-komödiantischen Musical-Show nach Rosa von Praunheims Kultfilm die gemeine Bettwurst: Als orthopädisch nützliche, prall gestopfte Nackenrolle, als phallischen Traum, als Sinnbild einer alles Hemmende hinweg lachenden freien Liebe.

Die Bettwurst. Das Musical“, Buch und Regie: Rosa von Praunheim
(
mehr dazu imKulturvolk-Blog Nr. 407 vom 12. September 2022).

Wiederaufnahme in der Bar jeder Vernunft, noch bis zum 2. März. Hier geht’s zu den Karten.

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