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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 505

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

20. Januar 2025

HEUTE: 1. Berliner Ensemble – „Liliom“ / 2. Schaubühne – „Replay“ / 3. Volksbühne – „Conni & Clyde“ / Extra-Tipp: „Extrawurst“ im Renaissance Theater

1. Berliner Ensemble - Liebe und Hiebe

"Liliom" im Berliner Ensemble © Jörg Brüggemann

Luisa, ein Teenager von 16 Jahren, wird im Streit von einem Mann geschlagen; es ist ihr Vater Liliom, doch das weiß sie nicht. Nachdem der weg ist fragt sie Julie, ihre Mutter: „Kann es sein, dass jemand einen so heftig schlägt und es nicht weh tut?“ – Die antwortet „ja“, so sei das auch ihr geschehen. – Mit diesem erschütternd nüchternen Wortwechsel endet „Liliom“, Ferenc Molnárs Vorstadtlegende von anno 1909 in der Inszenierung Christina Tscharyiskis. Ein provokantes Finale, das heutzutage wirkt wie ein schwerer Schuss gegen Emanzipation und Feminismus.

Liliom (Jannik Mühlenweg), Karussellausrufer auf dem Rummel, pocht auf seinen Ruf als unverschämter Frauenverführer – sein freilich einziger „Erfolg“. Ansonsten ist der Schlaks ein armes Würstchen, von Frauen abhängig wie der reifen Ringelspielbesitzerin Muskát (Bettina Hoppe) oder dem blutjungen Dienstmädchen Julie, das er schwängert (Lili Epply), rücksichtslos ausnutzt und immer wieder hemmungslos misshandelt. Ein Frauenschläger aus Wut und aus Scham über sein prekäres Dasein. Dem gedenkt er abzuhelfen mit viel Geld. „Es kann doch sein, dass auch aus einem Unmensch ein Mensch wird“, sagt er seltsam weinerlich zu Julie. Und lässt sich vom aasig eisigen Kumpel Stutzer (Oliver Kraushaar) überreden zu einem Raubmord. Doch alles läuft schief, Liliom rammt sich das Messer selbst in den Leib. Julie in schmerzensreicher Trauer kriecht ihm zur Seite aufs Totenbett.


Bitterkalte Fallstudie der Besessenheit


Der Kritiker Alfred Kerr urteilte einst über die bittersüße Rummelplatzballade, sie leuchte vor Kitsch und Genie. Die geniale Neuübersetzung von Terézia Mora aus dem Ungarischen tilgt alles Bittersüße (der Polgar-Übersetzung von 1912).
Dem entspricht die Regie, die mit atemberaubender Coolness eine bitterkalte Fallstudie der Besessenheit entrollt: Die fürs Liebesglück alles Unglück hinnehmende Frau; der für Aufstieg und Anerkennung alle Vernunft beiseite schiebende Mann. Sie sind Getriebene mit unstillbarer Sehnsucht nach Daseinserfüllung, die unerfüllt bleiben muss. Zwei Vergeblichkeitsmenschen auf dem zunehmend gefährlicher sich drehenden Karussell ihres fatalen Lebens. Eine Tragödie klar, karg, wahr in allen, auch feministischen Zeiten. Begleitet von Kyrre Kyams schmerzlichem Sound mit Schuberts depressivem „Leiermann“-Lied aus der „Winterreise“.

Mit einem Ensemble beklemmend minimalistischer Schauspielkunst; auch in den beiden komplementären Nebenrollen: Das ins herzige Eheleben trudelnde Aufsteigerpaar Marie (Joyce Sanhá) und Hugo (Adrian Grünewald).

Und wer weiß Antwort auf Luisas Frage nach Männergewalt, die Frauen nicht spüren? – Angst? Die Himmelsmacht Liebe?

Berliner Ensemble. Neues Haus, 11. Februar. Karten direkt im BE.


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2. Schaubühne - Mischpoke im Knast der Traumata

"Replay" in der Schaubühne © Ivan Kravtsov

Mit parodistischem Schwung schmettert die Frau Mama (Ruth Rosenfeld) ihren beiden halbwüchsigen Töchtern (Carolin Haupt, Eva Meckbach) ein paar gellende Spitzentöne der Brünnhilde aus Wagners „Ring“ an die Köpfe. Eine divenhafte Demonstration ihrer singulären Stimmbandkraft im Kinderzimmer. Denn die Dame ist Opernstar in Dresden anno 1987. Und aggressiv nervös kurz vor der Abreise nach Bayreuth. Auf den Gipfel ihrer Karriere. Von dort wird sie, was keiner ahnt, nicht mehr zurückkehren. Und Töchter nebst Ehemann sitzen lassen im sächsischen Jammertal.

Ein schwer traumatisierendes Ereignis für die ganze Familie (Lüge, Vertrauensbruch, Verrat): Der Gatte (
Renato Schuch), informeller Mitarbeiter der Stasi (ohne Verpflichtungserklärung kein Reisepass für Mutti), versinkt im Alkohol. Die Mädels – eins versucht gar, sich umzubringen – bleiben durch den Schock lebenslang beziehungsgestört.


Familienaufstellung mit verfestigten Verhaltensmustern


Womit wir beim Thema von „Replay“ sind, einer über Generationen hinweg ausgetüftelten Familienaufstellung von Yael Ronen, von ihr selbst inszeniert als Leporello auf der 140 Minuten allzu lang pausenlos kreisenden Drehscheibe mit vielen grob aufs Sensationelle zugespitzten Episoden aus dem bunten Leben der Sippe zwischen 1987 bis 2024.

Die gleichbleibenden Punkte, auf die zunehmend vorhersehbar alles
hinaus läuft in dieser schauspielerisch bestens illustrierten, regielich perfekt geölten Show: Die immerzu weitergegebenen Verhaltensmuster des Gestörtseins, das beständige Verraten, Brechen oder Verweigern von Vertrauen.

Schon deshalb, weil keine der Figuren, auch die mit den Jahren
hinzu gekommenen (Männer der Mutter, der Mädchen – Christoph Gawenda, Renato Schuch – in mehreren Rollen), weil niemand auf diesem unentwegt sich drehenden Neurosekarussell der Unglückseligen Anstalten macht, gegen das Schicksalhafte anzurennen, aufzubegehren, gar den Absprung zu wagen. Alle ächzen unter Psycho-Erblast. Kleben in „Strange Loops“.


Vorprogrammierte Tragik


Das wiederum hat mit William Strauss und Neil Howe zu tun, die Ideengeber für Ronens „Replay“. Die nämlich denken in ihrem Bestseller „The Fourth Turning“ Geschichte nicht als Fortschreiten, sondern als zyklische Bewegung. Dem Kreislauf der Jahreszeiten gleich setzen sich Traumata schier unendlich in Familien fort. Die Macht des Schicksals. Das Dasein prinzipiell vorprogrammiert. Tragödien am laufenden Band. Wir alle sind die hoffnungslos Ausgelieferten. Dementsprechend ist der Reigen der pittoresken Szenen konstruiert. Also kein Widerstand, nirgends. Keine Wandlung, keine Transformation – aus den Trümmern der Katastrophen aber könnte doch auch Neues grünen…

Wie schade, denn genau das wäre spannend! Stattdessen Dekoration mit überflüssig mystischem Video-Geflimmer und Johann Sebastian Bach als musikalischem Kompagnon.
Yaniv Fridel und Ofer (OJ) Shabi adaptieren effektvoll klingend „Canon Perpetuus“. Weil: Die Regie hält Bachs Kompositionstechnik als frühen Beweis für zyklische Welt- und Daseinsbewegung. Das sticht ins Erhabene ohne die freilich gekonnt hingeblätterten Ministorys der Mischpoke triftiger zu machen. Uns zu packen und aufzuregen.

Schaubühne, 25. Januar und 11. bis 13. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Volksbühne - Herzchen-Idyll mit Atombombe im Schuhkarton

"Conni & Clyde" in der Volksbühne © Lukas Städler

Mit gieriger Lust und höhnischem Lachen ziehen sie durch Amerika; schnappen sich, was sie wollen, ballern beiseite, was im Weg steht: Bonnie und Clyde, zwei einsame Wölfe gegen den Rest der bösen Welt.

Das verführerische Verbrecherpaar von anno 1930, eiskalt bis in die Fingerspitzen, aber sexy, fiel im Kugelhagel und stand wieder auf im Himmel kulturgeschichtlicher Mythen (Kino, Musical, Popmusik).


Pittoresk plüschige Wohnhöhle


Um hohe Erwartungen zu dämpfen: Mit all dem hat die dick mit Zeitgeistrosa verkleisterte Blödelshow „Conni & Clyde“ so gut wie nichts zu tun, die der Drag-Artist Meo Wulf löchrig erdacht und ebenso inszeniert hat.

Zusammen mit der gedienten Volksbühnenschauspielerin Christine Groß wird das nonbinäre Künstlerpaar C&C gemimt. Das haust und hopst pittoresk kostümiert in einer von Myan Tuulia Frank plüschig ausgepolsterten Wohnhöhle zwischen Klavier, Schlafsessel, Hausbar, Blumenkübel. Vermufftes Herzchen-Küsschen-Idyll mit Drinks und musikalischem Tralala. Ungelüftet (es stinkt, man hat Verdauungsprobleme) und weltabgeschieden. Bis Clyde – Überraschung! – mit dem Handy politische Bruchstückchen von Draußen wahrnimmt und im Grünzeugkasten absurderweise ein Maulwurf auftaucht.


Glitzernde Drag-Performance


Das possierliche Tierchen stürzt Conni, zartbesaitet, in Eifersucht, Clyde verzieht sich. Und macht Platz für Connis groß und breit angelegte Drag-Performance. Man zeigt endlich hingebungsvoll im glitzernden Rausch, was man hat am Leib und artistisch nebst Gesang alles drauf hat. Das entkrampft, löst auch die Verstopfung und gibt Anlass für einen extra tollen Tanz auf schier meterhohen High-Heels mit der Kloschüssel, aus der es natürlich braun herausschwappt. Kreisch! Der Saal kocht.

Nun naht nach gut 90 Minuten das Happy-End: Clyde schmachtet das Liedchen „Ich lieb dich obwohl du Scheiße bist“; das versöhnt. Wie der Griff zu den kunterbunten Spielzeugwaffen verbindet. Denn man müsse ja was tun gegen die schlimme Welt vor der Tür ganz ohne rosarot. Schließlich steht im Programmheft allerhand über Gut und Böse und Krieg und Widerstand und sogar einiges von Hannah Arendt. Also Politiker abknallen und eine Atombombe schmeißen (da steckt schon eine im Schuhkarton unterm Schminktisch). „Aber Terrorismus ist ja auch keine Lösung. O mein Gooott!“ – Soweit die Satire. Soweit der Trash als subversive Gesellschaftskritik.

Ansonsten toupieren wir weiter tuntige Turmfrisuren, kokettieren mit nacktem Hintern, kreiseln im Spaß-Delirium. – Jubel im Publikum. Und standing ovations für Meo Wulfs „Erforschung“, so die Verlautbarung der Volksbühne zu diesem Abend, inwieweit „im Theater Drag als künstlerische Praxis eine essenzielle Rolle spielt und neue Räume der Queerness sich eröffnen“.

Volksbühne, bis 30. März. Hier geht’s zu den Karten.


Extra-Tipp: Gegrillte Leitkultur

Zunehmend exzessiv werdende deutsch-türkische Überkreuz-Duelle zwischen Rechthaberei und Rechthaben füllen neunzig hochspannend komödiantische Theaterminuten im Renaissance Theater. Es kommt zu Wutexplosionen, Handgreiflichkeiten, Brüllerei und Türenschlagen. Zum Beschuss mit Vorurteilen, zu Einschüssen von Einsichten. -

Extrawurst“, Wiederaufnahme der Komödie von Dietmar Jakobs und Moritz Netenjakobs; im Renaissance-Theater.
(
mehr dazu im Blog Nr. 322 vom 6. Januar 2020).

B
is 11. Februar. Hier geht’s zu den Karten.

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