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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 477

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

15. April 2024

HEUTE: 1. Renaissance-Theater – „Stahltier“ / 2. Vagantenbühne – „Annette, ein Heldinnenepos“ / 3. Maxim Gorki Theater – „Muttersprache Mameloschn“

1. Renaissance-Theater - Dämonen im Dämmerlicht

"Stahltier" im Renaissance Theater © Bohumil Kostohryz

Niemand setzte die Nazis auf der Kinoleinwand so wirkungsmächtig in Szene wie Leni Riefenstahl. Hitlers Lieblingsregisseurin lieferte der Propagandamaschine die Munition. Nach dem Untergang des Dritten Reichs kämpfte sie bis zum Ende ihres Lebens darum, dass ihre Werke nicht als Propaganda, sondern als innovative Kunstwerke betrachtet werden. Zweifellos inspiriert die Ästhetik ihrer Filme bis heute.

In „Stahltier“ greift Albert Ostermaier Behauptungen der vor drei Jahren verstorbenen Riefenstahl-Biografin Nina Gladitz auf. Danach war die ehemalige Tänzerin Riefenstahl als Filmemacherin relativ talentfrei. Ihren Ruhm soll sie sich durch Anbiederung und Intrigen verschafft haben und durch skrupelloses Ausbeuten anderer Künstler.

Einer von ihnen: Willy Zielke. Jener Kameramann, dessen Begabung Riefenstahl schnell erkannte. Sie engagierte ihn als Mitarbeiter ihrer Olympiafilme. Kurz darauf aber wurde er wegen angeblicher Schizophrenie in eine Heilanstalt verfrachtet. Riefenstahl, so behauptete Zielke nach dem Krieg, soll treibende Kraft der Einweisung gewesen sein. Der „Patient“ wurde zwangssterilisiert, durchlitt noch verschiedene Arbeitslager und Psychiatrien.

Als „Exorzismus in memoriam Willy Zielke“ bezeichnet Albert Ostermaier sein Stück. Es entstand im Auftrag des Luxemburger Nationaltheaters als Koproduktion mit dem Renaissance-Theater. 80 packende pausenlose Minuten, für die es bei der Berliner Premiere (in Anwesenheit des Bundespräsidenten) berechtigt großen Beifall gab.


Kulisse aus bewegten Bildern


Im Auftrag der Reichsbahn drehte Zielke 1935 einen Industriefilm zum 100. Jahrestag der deutschen Eisenbahn. „Das Stahltier“, lange unter Verschluss, ist heute im Internet zu finden und gilt als Meilenstein des Dokumentarfilms. Die Szenen mit Loks, Gleisen und Stellwerken erinnern mit atemberaubendem Tempo und Schnitten an Filmkunst aus der Sowjetunion, wo Zielke zum Eisenbahningenieur ausgebildet wurde. Die Spielfilm-Rahmenhandlung wirkt hingegen unfreiwillig komisch, auch das mag ein Grund für das Verbot des Filmes gewesen sein. Doch fiel das Werk bereits beim Auftraggeber durch, der einen Werbefilm für die Bahn erwartet hatte.

Im Theater sorgen nun Szenen aus den Filmen Zielkes und Riefenstahls für eine bewegende Kulisse. Ostermaier schrieb das Stück eigens für Jacqueline Macaulay und Wolfram Koch. Beide harmonieren in Frank Hoffmanns in der Personenführung packender Regie großartig miteinander. Mal präsentieren sie den Text synchron, dann wechseln sie in den Rollen als Zielke, Riefenstahl und Propagandaminister.


Opfer, Täter, Mitläufer


Mehr und mehr wird das Stück zum Duell zwischen dem eiskalten Engel Riefenstahl und dem Dämonen Goebbels. Ein Spiel um das Verhältnis von Kunst und Macht, unüberhörbar mit erotischem Unterton. Man flirtet miteinander, man belauert sich, erniedrigt sich gegenseitig und fühlt sich zugleich voneinander angezogen.

Zielke, dessen Qualen auf dem OP-Tisch man anfangs noch miterlebte, gerät dabei fast in Vergessenheit. Wichtig: Er war kein Gegner der Nazis, auch wenn er unter ihnen leiden musste. Ein Leben als Opfer und Mitläufer. 1942 kam er wieder frei, wohl ebenfalls auf Betreiben Riefenstahls, die ihn sogleich als Kameramann für „Tiefland“ einsetzte. Für den berüchtigten Spielfilm wurden Sinti und Roma als Darsteller zwangsrekrutiert, die später fast alle ermordet wurden.

Renaissance-Theater, bis 19. Mai. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Vagantenbühne - Das Hohelied des Ungehorsams

"Annette, ein Heldinnenepos" in der Vagantenbühne © Niels Wehr

Was macht Heldentum aus? Oder Heldinnentum, in diesem Fall. Anne Beaumanoir, genannt Annette (sprich Anett), kommt 1902 in einer Hütte an der bretonischen Küste zur Welt. Das Gespür für soziale Ungerechtigkeit wurde ihr quasi in die Wiege gelegt. Als Kind ist Annette Pazifistin, mit 15 will sie Terroristin werden. Unter der deutschen Besatzung unterstützt sie die Résistance, schließt sich den Kommunisten an und geht in den Untergrund. Sie trifft, gegen den Willen der Partei, ihre große Liebe, einen deutschen Juden, der später verhaftet und erschossen wird. Anderen jüdischen Flüchtlingen verhilft die junge Frau zur Rettung.

Nach dem Sieg über Deutschland wirkt Beaumanoir als Neurologin. Politisch ergreift sie aktiv Partei für die algerische Befreiungsfront. Dafür wird sie von Frankreichs Justiz zu zehn Jahren Haft verurteilt, der sie sich durch Flucht ins Ausland entzieht. Erst am Ende ihres Lebens kehrt sie in die Heimat zurück, als hoch angesehene Medizinerin. 98-jährig stirbt Anne Beaumanoir im März 2022 in der Bretagne.

Unterdrückung, Widerstand, Befreiung: Das ist die Kontinuität in einem Leben voller Gegensätze und Widersprüche. Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber hat es aufgeschrieben. Sie konnte die hochbetagte Beaumanoir noch persönlich kennen lernen. So entstand ein Roman, obwohl Beaumanoir bereits selbst ihre Autobiografie verfasst hatte.


Widerstand in Versen


Ein abenteuerlicher, dramatischer Lebenslauf. Und was macht die in Paris lebende Autorin daraus? Ein Versepos! Das klingt erst einmal, auch wenn auf Reime verzichtet wird, nach schwieriger Lektüre. Ist es aber ganz und gar nicht. So leicht, gegenwartsbezogen und mit ironischem Unterton berichtet Anne Weber vom Schicksal einer Unbeugsamen. „Annette. Ein Heldinnenepos“ wurde 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

So elegant und feinfühlig wie die Vorlage erweist sich auch die Inszenierung von Kathrin Mayr in der Vagantenbühne. Der Text erscheint ja zunächst alles andere als theatertauglich. Die drei in verschiedenfarbige Overalls gekleideten Schauspielerinnen schlüpfen selten in eine Rolle. Sie tragen Webers Text vor, in der Fassung von Clemens Mägde und der Dramaturgie von Lea Mantel aber so gekonnt verteilt, dass bühnenreife Dialoge entstehen.

So erzählen die drei das Leben Annettes nicht nur uns, sondern vor allem sich gegenseitig. Nicht selten gibt es deswegen Streit. Besonders Marie-Thérèse Fontheim mit den dunklen Zöpfen gibt den kindlich-quirligen Störenfried, nervt ihre Mitspielerinnen Magdalene Artelt und Anne Hoffmann mit scheinbar naivem Fragen, das dann zu neuen Einsichten führt.


Kein Gut-Böse-Schema


Johanna Bajohrs
Bühne beschränkt sich auf eine einfache Treppe. Acht Stufen, die ideell als Podeste dienen, die man wieder einreißen kann. Als Berg aus den vielen Bündeln, die das Schicksal dem Menschen aufbürdet. Bei aller Last, die sie schleppen musste, ist Annette immer gerade geblieben. Und eckte deswegen an in den Revolutionen, die irgendwann ihre Kinder fraßen. Seien es die Spannungen innerhalb der Résistance, sei es die ambivalente Haltung der Kommunisten zum Kolonialismus oder die algerischen Freiheitskämpfer, die selber zahlreiche Gräuel anrichteten.

Gerade in Zeiten des postkolonialen Diskurses, wo ganz schnell der Schuldige ausgemacht wird, tut der objektive Blick dieses Stücks gut.

Vagantenbühne, bis 22. Juni. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Gorki Studio - Abrechnung am Versöhnungstag

"Muttersprache Mameloschn" im Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel MAIFOTO

Eines der bekanntesten Balladen in jiddischer Sprache erzählt von einem Jungen, der im Herbst mit den Vögeln Richtung Süden fliegen will. Damit er sich Gott behüte nicht erkältet, packt ihn die Mutter in viele warme Kleider ein. Als er auf dem Baum sitzt und mit den Armen flattert, kommt er nicht nach oben. So dick und schwer ist der Junge angezogen…

Die Liebe der Mutter, die ihr Kind nicht ziehen lässt: Ohne dieses Phänomen wäre Freuds Ödipus-Komplex kaum vorstellbar. Im Gorki Studio sitzt Daniel Kahn am Piano und singt zu Beginn das Lied vom Jungen auf dem Baum. Weitere Songs werden den Abend begleiten, nicht nur in der Muttersprache, auf Jiddisch Mameloschn.

Kahn ist der einzige männliche Protagonist. Ansonsten wird „Muttersprache Mameloschn“ von drei Frauenrollen dominiert. Lin, geboren 1935, Clara, geboren 1965 sowie Rahel, geboren 1990. Großmutter, Mutter und Tochter. Rahel hat einen Zwillingsbruder, den wir nicht zu Gesicht bekommen. Von ihm existieren nur geheimnisvolle Briefe.


Folklore sollte Identität stiften


Beim Vornamen Lin klingelt es bei mir. Es gab doch Lin Jaldati, die aus Amsterdam stammende Sängerin, die Auschwitz überlebte, die nach der Befreiung in die DDR wechselte, wo sie zum Star des jiddischen Gesangs wurde. Dabei war die Muttersprache der wenigen Juden in der DDR in der Regel deutsch. Doch jiddisches Liedgut aus Osteuropa und natürlich der Antifaschismus definierten das Judentum mehr als die im SED-Staat verpönte Religionsausübung, von der Verbundenheit zum zionistischen Staat Israel ganz zu schweigen.

Das Miteinander der Frauen auf der Bühne (Alissa Kolbusch), die mit den vielen umgeworfenen Stühlen an einen ungeordneten Seminarraum erinnert, entwickelt sich zum großen Aufräumen. Ausgerechnet am Versöhnungsfest, an Jom Kippur, kommt es zur Abrechnung zwischen drei Generationen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen.

Lin blickt auf eine Karriere als Kabarett-Artistin zurück. In Videos, die an History-Formate im Fernsehen erinnern, erklärt sie ihre (frühere?) Emphase für das sozialistische Weltbild, eine ideale Gesellschaft ohne Unterdrückung und Antisemitismus, für die sie wohl sogar als Agentin arbeitete. Das nehmen ihr Tochter und Enkelin übel. Nur: Darf man einer Shoa-Überlebenden böse sein?


Wiedersehen mit Ursula Werner


Clara versucht ein „normales Leben“ abseits aller Jüdischkeit, mit einem deutschen Mann, dessen Namen sich ihre Mutter nicht merken kann (oder will). Rahel hingegen organisiert ihre Zukunft in New York. Nach der Devise: Wie telefoniert ein kluger Jude mit einem dummen Juden? Von Amerika nach Europa… Außerdem merkt sie, dass sie sich mehr für Frauen als für Männer interessiert.

„Kein Mensch, nur deine Mutter schafft es, dich jederzeit mit einem Halbsatz zu töten“, wird die Schriftstellerin Maxi Obexer zitiert. Ursula Werner, famose Darstellerin der Lin, gelingt das auch mit einem Viertelsatz. Anastasia Gubareva hat als angepasste Tochter Clara ihren fulminanten Auftritt beim Cat-Stevens-Song „Wild World“, wo sie einmal richtig durchdrehen darf. Am coolsten wirkt Alexandra Sinelnikova als Rahel, wenn auch nur an der Oberfläche.

Sasha Marianna Salzmann kam als Kind aus Russland nach Deutschland, als „jüdischer Kontingentflüchtling“. Sie ist heute Hausautorin am Gorki (mehr dazu im Blog Nr. 462 vom 18. Dezember 2023). „Muttersprache Mameloschen“ wurde in Berlin bereits 2012 aufgeführt. In Tagen, in denen man sich über jüdisches Leben in Deutschland Sorgen macht, gewinnt das ironische Stück in der Regie von Hakan Savaş Mican zusätzliche Brisanz.

Die Produktion ist immer ausverkauft, nicht nur der begrenzten Plätze im Studio wegen. Daniel Kahn gilt als Idol des Yiddish-Revivals, mit Ursula Werner kehrte ein Star des früheren Gorki-Ensembles zurück. Das zieht. Man muss schnell sein und braucht „Masl“, um Karten zu ergattern. Aber versuchen Sie es! Es lohnt sich.

Gorki Studio Я, 17. und 18. Mai. Hier geht’s zu den Karten.

 

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