Heute: 1. Berliner Ensemble – „1984“ / 2. Schaubühne – „Prinz Friedrich von Homburg“ / 3. Theater an der Parkaue – „Funken“
1982 war ich Studentin an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig, als mich ein Westberliner Freund besuchte und mir George Orwells „1984“ mitbrachte, das er versteckt unterm T-Shirt durch die Grenzkontrolle geschmuggelt hatte. Ich wusste schon lange von dem Buch und war dementsprechend glücklich, es endlich lesen zu können. Wie tief und nachhaltig es mich beeindruckt hat und wie aktuell es gleichzeitig ist, begriff ich, als ich es vor dem Besuch der Vorstellung im Berliner Ensemble wieder zur Hand nahm.
KRIEG IST FRIEDEN / FREIHEIT IST SKLAVEREI / UNWISSENHEIT IST STÄRKE.
Diese absurde Parole, die in Orwells London neben dem Bildnis des Großen Bruders den Menschen von fast jeder Fassade entgegen brüllt, hatte ich nach über vierzig Jahren immer noch im Kopf. Der Text erschreckte mich erneut, und obwohl ich mich an die Geschichte von Winston und Julia auch in den Details erinnerte, las ich ähnlich atemlos wie damals das Buch auf einen Ritt durch und war wirklich gespannt, ob „1984“ auf der Bühne und vor allem heute so eine starke Wirkung entfalten kann.
Ja, der Inszenierung von Luk Perceval im Berliner Ensemble gelingt das! Es ist ein beklemmender anstrengender Abend, der sowohl den Schauspielern als auch dem Publikum einiges abverlangt. Hinter der letzten Zuschauerreihe befindet sich ein Teleprompter, von dem die Schauspieler den Text abnehmen, sodass man das Gefühl hat, den gesamten Roman zu hören. Ein immerwährender Redefluss, vor dem man noch nicht mal in der Pause verschont wird. Der Orwell’sche Text ist auch noch im Foyer zu hören...
Der Dialog im Kopf
Der Raum leer und schwarz, auf der Drehbühne vier Meter hohe Wände, die ein spitzwinkliges nach vorn offenes Dreieck bilden. Die Wände sind mit beweglichen Platten aus Spiegelfolie versehen (Bühne: Philip Bussmann). Dieser besondere Spiegeleffekt mach aus vier Leuten eine unüberschaubare Menschenmasse. Vier Leute? Ja, vier Spieler in farblosen, grau-beigen Anzügen mit Kassenbrillen – Paul Herwig, Veit Schubert,Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar – teilen sich die Figur des grüblerischen, die Dinge hinterfragenden Winston. Sprechen, flüstern gleichzeitig, fallen sich gegenseitig ins Wort, überschreien sich. Und schaffen es dabei, nicht nur Winston lebendig und vielschichtig werden zu lassen, sondern auch den Chefideologen und schließlich Folterer O’Brian, der hier nicht als Figur, sondern als innere Stimme Winstons präsent ist.
Pauline Knof als Winstons Geliebte Julia erobert sich selbstbewusst ihren Platz in diesem Viererkäuel, drängt sich zwischen die Männer, dominiert sie, verteidigt ihr Recht auf Leben, auf Freiheit und Liebe.
Bei Drehung des Spiegeldreiecks besteht der Raum nur noch aus den Rückseiten der Spiegelwände und deren Holzstützen, auf denen sich Winston und Julia scheinbar in Sicherheit bringen können, zwischen denen sie aber in Wirklichkeit eingezwängt werden, wie gekreuzigt hängen. Entrinnen unmöglich.
Und doch Hoffnung
Immer wieder ertönen im zeitlos aktuellen schrecklichen Geschehen mal innerhalb der Spiegelwände, mal im Zuschauerraum oder von hinter der Bühne mehrstimmige wunderbare Frauengesänge, die das Ohr und den Geist beruhigen (Musik: Rainer Süßmilch). Und dann doch, genau wie das Ende, das anders als bei Orwell ist, ein wenig Hoffnung machen.
Im Berliner Enseble sind alle Vorstellungen ausverkauft, bei uns gibt es noch einige wenige Karten für den 4. Januar. Hier geht’s zu den Karten.
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Auch der„Prinz Friedrich von Homburg“ an der Schaubühne in der Regie von Jette Steckel fordert sein Publikum extrem heraus. Hier ist es nicht Text, der ins Gehirn hämmert, hier wird Krieg vorgespielt in einer Art und Weise, die in Zeiten, wo wir uns den realen schrecklichen Bildern aus der Ukraine oder dem Gaza-Streifen nicht entziehen können, lächerlich, geradezu abstoßend ist.
Eine Schräge, die weit nach oben reicht, nimmt die gesamte Breite der Bühne ein (Florian Lösche). Hunderte mit Sand gefüllte graue Plastiksäcke sind darauf gepackt. Ein Frontabschnitt, ein Schützengraben, in dem sich die Spieler verausgaben müssen.
Sieben Menschen betreten die Bühne in Alltagskleidung, stellen sich in einer Reihe an der Rampe auf, tauschen ihre Jeans und T-Shirts gegen Tarnanzüge, legen Schutzwesten an, setzen Sturmhauben und Helme auf, bewaffnen sich, verwandeln sich in Kampfmaschinen.
Und dann geht’s los.
Wir müssen einem Nahkampf zusehen, in dem ein Soldat angeschossen und ihm dann noch ein Messer in die Brust gerammt wird. Die Soldaten kommen mit ihren Gewehren die Schräge herabgestürmt, rennen hinter die Bühne, erklettern das Podest von hinten, um sich erneut nach unten zu rollen. Dazu Geschützlärm in ohrenbetäubender Lautstärke. (Auf der Website der Schaubühne werden Ohrenstöpsel für den Besuch der Vorstellung angeboten... ) Gewehrsalven und Explosionen krachen gefühlt minutenlang. Nebel- und Rauschschwaden. Batterien von grellen Scheinwerfern strahlen von hinten. Zwischendurch wird albern militärisch exerziert, konzentriert versuchen die Schauspieler, nicht aus dem Takt der einstudierten Choreografie zu geraten.
Worum geht es hier?
In diesem ganzen über-ästhestisiertem Schlachtgetöse verkommt die Kleistsche Sprache zu Alltagsgerede, bleibt die zu erzählende Geschichte des von Widersprüchen zerrissenen jungen Mannes – zumindest für diejenigen, die das Stück nicht kennen – über weite Strecken unklar.
Spannend wird es erst, wenn die allesamt tollen Schauspieler endlich miteinander spielen dürfen. Wenn etwa Homburg (Renato Schuch) angesichts des für ihn geschaufelten Grabes Verzweiflung und Todesangst befällt, wenn die Liebende Natalie (Alina Vimbai Strähler) beim Befehlshaber, dem Kurfürsten (Axel Wandtke) um Gnade für den Geliebten kämpft, wenn sie den Geliebten zur Annahme des Gnadenangebots drängt, wenn die Regimentschefin Kottwitz (Jule Böwe) sich eindeutig auf die Seite Homburgs stellt.
Bei Kleist geht’s am Ende erneut in die Schlacht. Bei Steckel erschießt sich Homburg. Kein Happy End – wenigstens das.
Schaubühne, 1. und 12. Dezember; 18. bis 21. Januar. Hier geht’s zu den Karten.
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Ein ganz spezielles Feriencamp. Wer hierher kommt, verfügt über besondere Fähigkeiten: Wie Shawn (Denis Pöpping) mit außergewöhnlichem Showtalent, wie Twinkle (Salome Kießling) mit naturwissenschaftlichen Spezialkenntnissen, wie Isilda (Ioana Nițulescu) als absoluter Technikfreak.
Einzig Malte (Andrej von Sallwitz) scheint „total normal“ zu sein; jedenfalls sieht er sich so und stellt sich den anderen so vor. Macht aber die Erfahrung, dass auch er etwas Besonderes ist.
In diesem Feriencamp gibt es keine Erwachsenen, die die Jugendlichen betreuen, hier müssen sie sich um sich selber kümmern. Es gibt aber eine „Stimme“, die über große Macht und Geld zu verfügen scheint und dafür verantwortlich ist, dass sie alle hier sind. Diese Stimme – mit für mich eindeutigen Assoziationen zu Elon Musk – will die Kids beherrschen und manipulieren, natürlich, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Fragen und Ängste ernst genommen
Wie die Vier sich dagegen wehren, wie sich gegenseitig unterstützen, wie sie mit der Welt, die „sich innen weniger Stunden immer wieder als eine andere herausgestellt hat“, klarkommen, davon erzählt „Funken“ von Tim Wiebel, ein Stück, das 2021 mit dem renommierten Retzhofer Dramapreis ausgezeichnet wurde, in teils realistischer, teils überhöhter Sprache, in die auch Popelemente einfließen.
Mir erschienen manche Passagen und Wendungen nicht schlüssig, aber die jungen Zuschauer, die mit mir im ausverkauften Saal saßen, waren offensichtlich begeistert. Und für sie wurde es schließlich geschrieben.
Die Mischung aus Realität und Überhöhung nimmt auch die Inszenierung von Mina Salehpours auf: Ein Rolltor am linken hinteren Bühnenrand, das sich unter grellem Gegenlicht öffnet, markiert das Tor zum Camp in die eine Richtung und in die andere, die Außenwelt. Das Ferienlager selbst materialisiert sich in silbrig glänzenden überdimensionalen Konfettiplättchen, die zu einem Kreis zusammengekehrt werden können und damit einen Rahmen schaffen. Die aber auch herumwirbeln, auseinander fliegen und so das Durcheinander, in dem sich die Figuren befinden, sinnfällig machen. (Bühne: Andrea Wagner).
Das Schräge, das Isilda, Twinkle, Shawn und immer mehr auch Malte verbindet und gleichzeitig in ihrer Individualität unterscheidet, hat Maria Anderski in phantasievolle Kostüme übersetzt: Sie verknüpft Materialien und Stile, die eigentlich gar nicht zusammenpassen: Karierter Wollstoff mit einem Tutu aus blauem Tüll, Sackleinen mit schwarzglitzerndem federleichten Stoff. Faszinierend die Masken in Form von bunten Hauben mit schlenkernden Hörnern und Glubschaugen an den unmöglichsten Kopfstellen. Auch die Kostüme zeigten mir: Im Theater muss man nicht immer alles verstehen, man kann auch einfach hingucken.
Theater an der Parkaue, 20. Dezember; 28. und 29. Januar. Hier geht’s zu den Karten.
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte