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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 411

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

10. Oktober 2022

HEUTE: 1. „Exil“ – Berliner Ensemble / 2. „Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie“ –  Vaganten / 3. „Auslöschung. Ein Zerfall“ – Deutsches Theater 

1. Berliner Ensemble - Emigranten-Elend unterm Eiffelturm

"Exil" im Berliner Ensemble © Jörg Brüggemann

Schon wieder ein Roman, der zum Theaterstück umgebaut wurde! Aus den 900 Druckseiten des Romans Exil“ von Lion Feuchtwanger (1940) filterten Regisseur Luk Perceval und Dramaturgin Sibylle Baschung 60 Seiten Skript. Das ist praktisch für faule Leser, denen eine vornehmlich durch Monologe getragene Kurzfassung des Romangeschehens mit seinen vielen konfliktbeladenen Figuren serviert wird.


Nazi-Propagandist und Nazi-Gegner


Die Handlung spielt Ende der 1930er Jahre im Nazi-besetzten Paris, wo ums Überleben ringende, aber auch im sehr verschiedenen Widerstandskampf zerstrittene Exilanten auf gefährliche Art zusammenprallen mit der mörderischen Besatzungsmacht. Im Mittelpunkt stehen der aus München kommende Komponist Sepp Trautwein (Oliver Kraushaar) und Erich Wiesener (Marc Oliver Schulze), der Ex-Republikaner und jetzige berühmte Paris-Korrespondent einer bedeutenden „Reichs“-Zeitung aus dem Hause Goebbels. 

Eine historisch-politisch wie menschlich-psychologisch breit und vielschichtig angelegte Gemengelage im Künstler- und Intellektuellen-Milieu, die in ihrer rigorosen Eindampfung eher in Umrissen erlebbar wird. Diesmal als an der Rampe organisiertes, unaufgeregtes Redetheater. 


Paris, Notunterkunft für Verfolgte 


Damit das nicht allzu unaufgeregt daherkommt, baute Bühnenbildnerin Annette Kurz allein aus Stühlen einen spektakulären Eiffelturm in den Bühnenhintergrund (Wartesaalsymbolik), unter dem die Regie einen akrobatisch-ballettösen Bewegungs-Chor arrangierte, der emsig durch Licht- und Nebeleffekte gestützte Stimmungsbilder malt.

Doch die immense Dynamik der Ereignisse (Flucht, Terror, Geld- und Obdachsorgen), die Dramatik der Konflikte (Karrierismus und Opportunismus, Verantwortung, Verrat und Lüge, Leidenschaften, Liebe), die bleiben weitgehend ungespielt
Große Ausnahme in kleiner Rolle: Pauline Knof als Ehefrau Trautweins, die Angst, Demütigung und Existenznot in den Selbstmord treiben.

Ansonsten: Verflachung. Trotz des vielstimmigen, prominenten Ensembles: Meist doch nur Hergesagtes. Ein Büchlein mit groben Skizzen aus schrecklicher Zeit. Das Publikum heute wird sich selbst seinen Reim drauf machen.

Berliner Ensemble, 23. Oktober und 27.November. Hier geht’s zu den Karten.

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2. Vaganten - Vom Bayern-Stadel an die Wallstreet

Urs Stämpfli, Joachim Villegas © Manuel Graubner
Urs Stämpfli, Joachim Villegas © Manuel Graubner

Lehman Brothers“ – der Begriff klang damals, gut ein Jahrzehnt ist’s her, beinahe wie „Weltuntergang“. Brachte doch die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers, der bis dato größte Konkursfall in den Vereinigten Staaten, anno 2008 die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Seither gilt „Lehman Brothers“ als Schreckenssymbol menschlicher Hybris.

2015 wurde in Paris ein Theaterstück des italienischen Dramatikers
Stefano Massini uraufgeführt, das alsbald in ganz Europa reüssierte. Sein Schock-Titel: „Lehman Brothers“. – Es spricht für die Findigkeit von Lars Georg Vogel, Intendant der Vaganten, „L.B.“ in die Hauptstadt geholt zu haben. Außerdem passt es bestens zu diesem anspruchsvoll auf zeitgenössische Dramatik orientierten, öffentlich gestützten Privattheater (70 Jahre Vaganten; siehe Blog 285 vom 11. Februar 2019). 

Familiensage und Wirtschaftskrimi 


Stefano Massini
, Jahrgang 1975, künstlerischer Berater am Piccolo Teatro Mailand, gilt als einer der maßgeblichen neuen Autoren Italiens. Schon der vollständige Titel „Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie“ zeigt an, es geht Massimo in seinem opulenten, märchenhaft gestrickten Script von 250 (!) Seiten – Kompaktfassung vom Regisseur Lars Georg Vogel – nicht sonderlich ums Ökonomische, nicht um den schier unglaublichen Wirtschaftskrimi, sondern um die schier ebenso unglaubliche Familiengeschichte der Lehmans über drei Generationen und eineinhalb Jahrhunderte hinweg. Zwar touchiert der Autor die Berührungen dieser Bank zur Geschichte des amerikanischen Kontinents wie der Welt, dennoch hätte die ansonsten starke, sonderlich im Schauspielerischen intensive Inszenierung dieser epochalen Familiensaga das Politische deutlicher akzentuieren können. 


Hayum, Mendel und Maier können nicht nur gut mit Zahlen 


Wir sind im Jahr 1844, als drei Brüder eines jüdischen Viehhändlers im bayerischen Nest Rimpach auswandern, um im weiten südlichen Westen ihr gelobtes Land zu finden. Hayum, Mendel und Maier Lehmann, die sich nun Henry, Emanuel und Mayer Lehman nennen, können gut mit Zahlen, sind enorm kommunikativ, höchst intelligent, mutig, ehrgeizig, lernen schnell Englisch und starten in Alabama als Tuchhändler. Dort stricken sie ein weitverzweigtes Netzwerk im Baumwollhandel: Kaufen und mit hohen Profitraten weiterverkaufen, so geht das. Doch allmählich rückt der Warenhandel zurück zugunsten des Geldhandels. Mit den Gewinnen wird über die Generationen hinweg investiert in Kaffee, Kohle, Erdöl, den Bau von Eisenbahnen und Autos, sogar in die Filmindustrie. Schließlich gründen Lehmans eine Bank und finanzieren so ziemlich alle, die Geld brauchen, darunter auch Regierungen, die Kriege führen. Grundsätzlich gilt das Motto: Nichts bringt mehr Geld als das Geld. 

Philip Lehman, Emanuels Sohn, bringt das Familien-, Banker- und Spekulantenleben auf den Punkt: „Ich will das Leben nutzen. Mit einer Zahlenreihe vor dem Komma, nicht dahinter.“ – Freilich, gut Geld verdienen wollen alle. Und die letztlich unheilige Allianz von Geld und Gier treibt nicht nur Banker, nicht nur jüdische Banker um, sondern – mit Verlaub! – so gut wie jeden. Eine Tatsache, die der Autor in seinem geschickt als Parabel gebauten Stück, das zahlreiche Momente des speziell Jüdischen (Religion, Bräuche) enthält, nicht weiter diskutiert. 


Bilder vom allgemeinmenschlichen Wahnwitz


Immerhin, die Regie drängt religiöses Brauchtum weitgehend zurück. Sie stellt aber auch Stefano Massinis historischen Bilderbogen nicht sonderlich aus (Sklavenhandel, Sezessionskrieg, Börsencrash 1929, Zweiter Weltkrieg, Mc-Carthy-Ära, Vietnam). Sie rückt vielmehr die bloße Familienstory ins zeitlos Abstrakte; pointiert mithin den allgemeinmenschlichen Wahnwitz. Widerspricht also womöglich unsäglichen Assoziationen, allein „die Juden“ seien brutal profitgierig und stürzten letztlich die Welt ins Verderben. Übrigens, die Lehman-Family hatte längst alle ihre Anteile verkauft, als die Lehman-Bank in die Katastrophe und die Geldwelt ins Chaos stürzte. 

Eigentlich steckt in dem Ganzen eine veritable Schauspieloper. Ein kleines Welttheater einschließlich saftiger Geschichtslektion. Aufs opulent Anschauliche (die Videoschnipsel von
Stella Schimmele machen da nicht viel her) sowie aufs dezidiert Belehrende verzichtet – eigentlich schade – Vogels minimalistische Inszenierung. Dafür triumphiert vitale Schauspielkunst! Das Herrentrio in Jeans und mit Cowboy-Hut – Andreas Klopp, Urs Stämpfli, Joachim Villegas – schlüpft in Windeseile (Tempo, Tempo!) in die verschiedensten Figuren der Lehman-Familie. Mitreißend, teils amüsant, teils erschreckend. So wirbelt – alles in allem – ein spannendes Spektakel.

Vaganten, am 27., 28. und 29. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.

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3. Deutsches Theater - Braune Soße über Wolfsegg

Bernd Moss, Linn Reusse, Daniel Zillmann  © Thomas Aurin
Bernd Moss, Linn Reusse, Daniel Zillmann © Thomas Aurin

Die für Franz-Josef Murau denkbar größte Katastrophe ist eingetreten: Ein Telegramm befiehlt: Zurück ins Haus nach Wolfsegg, wo er geboren wurde, wo die „dummen Landpomeranzen“, die beiden Schwestern, leben und wo jetzt die Eltern und der Bruder gestorben sind – ihr Begräbnis steht an. 

Sow
eit die heftig aufsteigende Erinnerung an eine herrisch reglementierte Kindheit, an das unausrottbare Nazitum der Eltern, an diese ganze von Lieblosigkeit, Hass, Borniertheit und spießiger Selbstgerechtigkeit zerfressenen Sippe, vor der Franz-Josef mit seinen gesammelten Traumata einst angeekelt floh aus der finsteren oberösterreichischen Provinz ins helle Italien, nach Rom. Und nun muss er, aufgeklärter akademischer Kulturbürger, noch einmal zurück in den „Wald der Kindheit hinein“, in die Schrecklichkeiten familiärer Gewaltherrschaft, ins dreiste Fortblühen „katholisch-nationalsozialistischer Mentalität“. – Aber: Es soll zugleich vorwärts gehen: Endlich in die endgültige, die befreiende seelische Auslöschung des Wolfsegg-Horrors. 


Monument brutaler Generalabrechnung


Davon handelt Thomas Bernhards letzter Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ von 1986. Ein sprachgewaltig bitterböser, zugleich hochnotkomischer innerer Monolog. Ein Monument des Menschheitsekels auf immerhin 600 Druckseiten. Eine brutal sarkastische Generalabrechnung mit scheinbar heimatlichem Idyll und überhaupt: mit der deutsch-österreichischen Nachkriegsgesellschaft. 

Regisseurin Karin Henkel und Dramaturgin Rita Thiele haben den ungeheuer monströsen psychologisch-politischen Erguss verdünnt und geschwächt durch Einbau diverser Texte aus anderen Bernhard-Stücken. Um einen Mix aus groteskem Kabarett und giftigem Konversationsstückchen zu haben für hübsch ätzende Spielszenen der von „brauner Soße“ durchnässten Typen. 


Fahrstuhl aus der Nazi-Hölle 


Und so tummeln sich denn im längst abgestorbenen Wald (Bühne Thilo Reuther) die Fratzen der untoten Eltern (in Hass verklebt Almut Zilcher, Manfred Zapatka), die verlogen bösartigen Schwestern (Anja Schneider, Daniel Zillmann). Franz-Josef, dem armen Wüterich (Bernd Moss), ist noch ein Kindheitsdoppel beigegeben mit Linn Reusse und Daniel Zillmann. ‑ So brettelt sich die edle Spielschar durchs elend Vergangene und entsetzlich Gegenwärtige – zum Heulen, zum Lachen. Und doch will uns dieses Lachen nie im Halse stecken bleiben; obgleich die „braune Soße“ doch unentwegt weiter köchelt im Heute auch jenseits von Wolfsegg. 

Dieses plakativ grell ausgestellte Panoptikum im unheilvollen, verdorrten Wald, aus dessen verseuchtem Boden – surreales Finale – im gläsernen Fahrstuhl Nazi-Größen auftauchen wie aus der Hölle und gespenstisch walzern mit den unheimlich wiederbelebten Murau-Eltern, das alles ist gut gemeint und gemacht, lässt uns aber kühl beiseite. Das packt nicht Bernhards Furor, mit dem er – verzweifeltes Warnbild – das Schlimmste als naturgemäß herrschendes Daseinsprinzip behauptet.

Deutsches Theater, 29. Oktober und 26. November. Hier geht’s zu den Karten.

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