HEUTE: 1. „Salome“ – Gorki Theater / 2. „Elfie“ – Neuköllner Oper / 3. „Meine Kinderjahre“. Fontane-Lesung mit Simone von Zglinicki – Deutsches Theater / 4. Glückwunsch: 70 Jahre „Die Vaganten“
Geradezu populär wurde „Salome“ weltweit erst durch Richard Strauss; der Komponist nahm sich das 1893 erschienene gleichnamige Schauspiel von Oscar Wilde als Libretto, das er nahezu Wort für Wort vertonte, womit er auf Anhieb in den Ruhm durchstartete. Freilich, die philosophisch-moralisch provokante, sexistisch aufgeladene Geschichte der Prinzessin Salome aus Judäa am verbrecherisch dekadenten Hof ihres Stiefvaters Herodes, die intellektuell wie erotisch fasziniert ist von einem eingekerkerten fundamental-religiösen „Dissidenten“, der von einer moralisch gereinigten Welt schwärmt, aber die erregte Prinzessin verschmäht und dessen Tod sie deshalb fordert, diese Story rüttelte extrem aufreizend an Grundfesten des (nicht nur) damaligen gesellschaftlichen Konsens‘. Skandal!
Das war so bei Erscheinen des Wilde-Buchs wie zur Opern-Uraufführung in Dresden anno 1905. Dort allerdings kamen noch die spätromantisch aufgetürmten, raffiniert neutönerisch durchsetzten Klangmassen eines Riesenorchesters sowie die Salomes Kehlkopf enorm strapazierenden Spitzentöne samt eines ordentlich Hüftschwung erfordernden Nackttanzes hinzu. Öffentlicher Aufruhr.
Jetzt am Gorki-Theater Oscar Wilde ohne Richard Strauss, garniert mit ein bisschen Popmusik von Gerrit Netzlaff, aber alternativ à la mode besetzt: Salome ist kein gertenschlankes Mädel, sondern der mit massiger Fülle und Ganzkörperbehaarung gesegnete Schauspiel-Star Benny Claessens. Und auch sonst ist zumindest äußerlich alles anders: Die Männer spielen Frauen und umgekehrt. Bloß der religiös prophetische Menschen- und Weltverbesserer Jochanaan zeigt unübersehbar sein am Zwickel der Strumpfhose angenähtes Geschlecht (eine Bastelarbeit der Kostümabteilung), bleibt ansonsten aber gut verhüllt mit Cape, Kapuze, Rauschebart, dafür aber drastisch vervielfacht: Gleich fünf Spieler mimen ihn mit Laternchen in den Händen quasi als Heinzelmännchens Sprechchorparade.
Ansonsten bleibt Thomaspeter Goergens Textfassung dem Autor erstaunlich dicht auf den Fersen. Dafür hat Regisseur Ersan Mondtag seine in vernebelter Düsternis schaurig kreiselnde „Salome“-Show bis zum Überlaufen mit Zeichen für und Anspielungen auf alle nur erdenklich aktuellen Schlagzeilen und Diskurse verfüllt. Dem farcehaft zugerichtetem Wirrwarr aus Bibel und Boulevard, Ohnmacht, Macht und Missbrauch, aus Fanatismus, Fatalismus, Liberalismus, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus sowie selbstredend Gendercrossing setzt schließlich eine neu erfundene Hinzufügung die über-über-ironische Krone auf. Nämlich: Die tolle, als solche erkennbar gebliebene israelische Schauspielerin Orit Nahima knallt im virtuos kabarettistischen Schnellsprech ihren hemmungslos sarkastischen Senf auf alles und jedes, was da wabert und dampft im brutal metaphorisierten und politisierten Schnellkochtopf.
Was nun wiederum den schauspielerisch freilich glänzend bewältigten, hoch gestochenen, für Spezies streckenweise durchaus amüsanten „Salome“-Wahnsinn schlicht als den totalen Blödsinn denunziert. Mit der finalen Aufforderung zur „Endlösung“, also dem kollektiven Selbstmord aller auf der Bühne sowie bestenfalls gleich noch von allen im Saal.
Ersan Mondtag ist womöglich eine Hochbegabung seines Fachs (demnächst schon wieder beim Berliner Theatertreffen), die allerdings Gefahr läuft, total durchzudrehen im Bedeutungswahn, falls es an dramaturgisch stringent ordnender Beihilfe fehlt. Offensichtlich wollte er dem genialen Richard hinterher eilen, der die per se schon starke Vorlage noch massiv aufdonnerte durch geradezu rauschhafte Musik. Eitel Ersan stank da mit seinem aufgeblasenen Trash einfach ab.
(wieder 16. 2., 19.30 Uhr und am 17.2., 18 Uhr)
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Nein, „Elfie“ hat nichts zu tun mit Elfriede Jelinek. Dabei erinnert der Titel des uraufgeführten Stücks „Musiktheater“, so die korrekte Genrebezeichnung in der so innovationsfreudigen Neuköllner Oper, dabei fällt einem bei Elfie sofort Elfriede Jelinek ein, die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin, die ja selbst gern ironisch mit ihrem Vornamen spielt. - Die Berliner Elfie jedoch ist eher eine Verwandte im Geist von Marie aus Büchners „Woyzeck“ oder Wedekinds Lulu – ist also eine Femme fatale, ein lebenstolles Weibsbild, das vor aller Augen gierig die Männer ihrer Lust ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen oder Moralvorstellungen verbraucht. Anders gesagt: Diese Elfriede „Elfie“ Steinheuer, Ehefrau des Oberlehrers Ernst Steinheuer, Mutter von Tochter Beatrix und Gespielin diverser örtlicher Honoratioren, was sie zum peinlichen Stadtgespräch macht, diese fesche Elfie nimmt sich alle Freiheiten. Zugleich aber ist ihre triebhafte Daseinsradikalität ein Ausbruchsversuch aus kleinbürgerlicher Enge, ein Affront gegen grassierende Bigotterie und spießige Doppelmoral.
Das Libretto von Martin G. Berger, der zugleich Regie führt, fußt auf dem nur in Umrissen gefertigten Film-Script „Eine Mordgeschichte“ von Tankred Dorst (Mitarbeit Ursula Ehler) aus den 1980er Jahren. So bleibt die Skandalgeschichte des heimlich bewunderten, aber öffentlich verhassten Bürgerschrecks Elfie wie auch das kleine Panorama der kleinkarierten Stadtgesellschaft (Musikkritiker, Chirurg, Elektrogroßhändler, Kneipenwirtin) vornehmlich in Schlaglichtern sichtbar. Die dem Stoff immanente Dramatik, ja Tragik wird eher oberflächlich wahrnehmbar. Trotz dieser Einwände entwickelt sich aber in 80 Minuten Spieldauer eine doch ziemlich aufregende Geschichte, gegliedert in neun „Nummern“, deren logische Abfolge allerdings nicht immer ganz klar ist. Zwischentitel als pointierte „Ansagen“ wären da hilfreich.
Eine gute Idee der Regie ist, das Grell-Boulevardeske des von tieferer Psychologisierung ohnehin freien Fragments immer wieder hin ins Groteske zu schieben. Dafür steht ein agil agierendes, großartiges Ensemble parat, angeführt von den bemerkenswert starken Protagonisten Inka Löwendorf und Clemens Gnad als Ehepaar Steinheuer.
Der Komponist Wolfgang Böhmer sagt, er versuche, das kategorische Schwarz und Weiß von U und E in eine vergnügliche Grauzone zu verwandeln. Das ist ihm mit „Elfie“ auf intelligent unterhaltsame Weise gelungen. Und es wäre wohl noch um einige Grade wirkungsvoller, hätte die Regie das Satirisch-Aberwitzige, Farcehafte noch sehr viel deutlicher akzentuiert.
Immerhin gibt es ein ausgesprochen witziges Finale: Auftritt von Ernst, zerknirscht und mit Blut am Hemd. Wurde der gehörnte Gatte etwa doch zum rachdurstigen Mörder? Doch nein, der brutal Gedemütigte setzt sich brav neben seine ihn durchtrieben umschmeichelnde Gattin Elfie; beide erschöpft, aber gemütlich. Die Zähmung der frivol Widerspenstigen? Oder die Erkenntnis, dass ein diskret praktiziertes Doppelleben ganz praktisch ist. Wohl kaum. Eher die Verschnaufpause vor der nächsten Kampf-Runde im Ehe-Krampf. Oder etwa doch – absurde Pointe – alles Friede, Freude, Eierkuchen? – Was für eine fein aashafte Ambivalenz der Regie. Man hätte sich noch mehr davon gewünscht.
Dennoch, der vor allem durch Gesang und Spiel interessante Abend gewinnt durch einen fulminanten, ja grandiosen Aufwand im Künstlerisch-Technischen an Spannung: Da ist zum einen die signifikante Ausstattung von Sarah-Katharina Karl: Im Zentrum des Saals ein begehbares Podest bestückt mit einer Spielzeug-Kleinstadt nebst kreisender Spielzeug-IC-Eisenbahn, drum herum gruppiert das Publikum. Da sind zum anderen die sensationellen Video-Projektionen von Roman Rehor zur Illustration diverser Zwischenmusiken an den gleichfalls bespielbaren Rückwänden des Saals, in dessen vier Ecken Podeste für die wechselnden Spielorte stehen. Das alles bringt die Regie raffiniert zusammen. Toll!
Oliver Imig dirigiert souverän sein frappierende Klangeffekte hervorbringendes, vom Komponisten originell besetztes, mit musikalischen Schwierigkeiten reichlich versorgtes Kammerorchester.
Die immer wieder mutig aufs Experiment setzende Neuköllner Oper stellt sich mit „Elfie“ einer in jeder Hinsicht enormen Herausforderung – und hat alles in allem gewonnen. Gerade für zeitgenössisches Musiktheater im Kammerspielformat mit Anspruch im Künstlerischen wie publikumswirksam Unterhaltenden ist es nicht leicht, beides in eins zu bringen. Dass auch bei dieser immerhin ziemlich ausgefuchsten Novität das Work-in-Progress gilt, liegt in der Natur der Sache.
(wieder 14.-17., 24., 26., 28. Februar; 1.-3. März jeweils 20 Uhr)
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Im harten Winter 1891/1892 – es gab noch keine Impfung – schlug bei Theodor Fontane das Virus zu: eine schwere Influenza mit weit darüber hinaus reichenden Angriffen. Der Erkrankte, Anfang siebzig, sprach, mit einem Rest seines unerschütterlichen Humors, von seiner „Nervenpleite“. Ein kluger Arzt verordnete nicht nur Arzneien, sondern riet zum Wechsel der Manuskripte. Also „Effi Briest“ beiseitelegen und sich an die Kindheit erinnern, ans Elternhaus in Neuruppin und vor allem an die glücklichen Zeiten an der Ostsee in Swinemünde Anfang der 1830er Jahre. Das könnte die wuchernde Depression zurück drängen; und das hat sie auch. So entstand „Meine Kinderjahre“. Ins Tagebuch schrieb Fontane, damit habe er sich wieder gesund geschrieben. Er selbst hätte nicht erwartet, als „total gebrochener Mann“ wieder zu einer solchen Schreibkraft zu finden, was ihn „sehr glücklich“ gemacht habe.
Die Schauspielerin Simone von Zglinicki, seit 1974 im DT-Ensemble, direkt von der Leipziger Hochschule weg engagiert. Zuvor hatte sie ihr Filmdebüt „Für die Liebe noch zu mager“, womit sie quasi über Nacht zum gefeierten Defa-Jungstar avancierte. Auch am DT galt sie sofort als neuer Stern. Ich sehe sie noch vor mir als Miranda mit Alexander Lang als Caliban im damals angesagten langen Glockenrock und im T-Shirt über die Bühne wirbeln…
Simone von Zglinicki liest aus Theodor Fontanes 1893 erschienen Reminiszenzen „Meine Kinderjahre“. Eine Verneigung in Dankbarkeit vor dem Dichter Berlins, der Mark und der Welt. Aber auch eine Erinnerung an seinen 200. Geburtstag in diesem Jahr.
(Lesung im DT-Rangfoyer am 11. Februar, 19.30 Uhr.)
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Just am 9. Februar 1949 gründete Horst Behrend ein Kammerspieltheater. Es war eine Gruppe künstlerisch heimatloser Schauspieler, die sich gleich nach Kriegsende zusammenfand und sich erst später, eben jetzt vor 70 Jahren, den programmatischen Namen „Die Vaganten“ gab; denn eine feste Spielstätte stand nicht zur Verfügung. Erst Mitte der 1950er Jahre fand man Domizil im Souterrain vom Delphi-Filmpalast.
Die Vaganten – schwere Belastungsproben wurden gemeistert ‑ sind seit jeher eine feste Größe im Berliner Privattheaterbetrieb (gegenwärtige Leitung: Jens-Peter Behrend, der Sohn von Horst). Dabei haben sie sehr unterschiedliche Theaterepochen und Stilrichtungen durchlebt, mitgestaltet, überlebt: Von den Anfängen der Theater-Avantgarde West-Berlins über die Glanzzeiten der Moderne in den 1960er Jahren mit Autoren wie Sartre, Genet, Anouilh, Ionesco, Mrozek, Tardieu oder Osborne bis hin zu den strikt zeitbezogenen, politisch sonderlich virulenten Themen und Stoffen von heute, wofür Autoren wie Ayad Akhtar, Daniel Kehlmann oder Yasmina Reza stehen. Daneben wird teils mit ziemlichem Aufwand die spektakuläre Adaption von Klassikern betrieben – beispielsweise Vicky Baums „Menschen im Hotel“ oder Heinrich Manns „Der Untertan“. Gegenwärtig läuft erfolgreich die Adaption von Kleists hoch dramatischer Widerstandsgeschichte „Michael Kohlhaas“. Zur feinen Tradition wurden die monatlichen „Montagslesungen – Literarische Streifzüge durch Berlin“.
Im April wird es eine eigens fürs Jubiläum konzipierte Revue geben, die mit reichlich Musik Berlin spiegelt und die Geschichte der Vaganten in der nunmehr ordentlich sanierten, schönen schwarzen Studio-Box an kulturhistorisch immerhin bedeutsamem Ort an der Kantstraße; nicht weit weg von der Paris-Bar zwischen Savoy-Hotel, Delphi-Kino, Quasimodo-Jazzklub, Theater des Westens und C/O Berlin-Galerie. Es könnte ein sozusagen „Vaganten-Berlinical“ werden. Wir gratulieren und sind gespannt.
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder