HEUTE: 1. „Fidelio“ – JVA Tegel / 2. „Krolls Etablissement. Eine Berliner Legende erzählt, gespielt, gesungen“ – Theater im Palais / 3. Ehrung für Lilith Stangenberg – Wildgruber-Preis 2020 / 4. Letzte Vorstellung: Lilith Stangenberg als Lulu – Volksbühne
Gefangenenbefreiung im Knast, doch der Innensenator muss nicht eingreifen. Aber hingehen schon, wenn das Gefängnistheater in der JVA Tegel Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“ spielt. Ist es doch immer wieder höchst erstaunlich und zutiefst berührend, was das künstlerische Leitungskollektiv vom (längst kein Geheimtipp mehr!) Gefängnistheater „aufBruch“ unter Regisseur Peter Atanassow da tut – diesmal zusammen mit etwa zwei Dutzend Insassen, einem Team vom Education-Programm der Berliner Philharmoniker (Leitung: Simon Rössler), mit Alumni der Karajan-Akademie sowie Studierenden der Eisler-Musikhochschule und nicht zuletzt mit aufwändiger Unterstützung der JVA-Beamten.
Um es gleich zu sagen: Für alle Beteiligten an den stets enorm herausfordernden Projekten am so extrem ungewöhnlichen Ort steht der Anspruch: Hier gilt’s der Kunst! Und der zuerst; wobei ihre pädagogischen und therapeutischen Aspekte nicht unterschätzt sein sollen, sonderlich für die „einsitzenden“ Akteure gegensätzlichster Art und Herkunft.
Die meisten hatten bislang mit Kunst, Klassik, gar mit Oper nichts am Hut. Doch der Aufruf zum Casting (wer will, der darf) fand viel Gehör, gewiss nicht allein aus plötzlich erwachtem Drang zur Kunst (der könnte sich entwickeln). Schließlich wurden für die Besetzung etwa zwei Dutzend Leute gebraucht, erwählt, gebucht und hielten tapfer durch im stressigen Lern- und Probenprozess bis hin zur umjubelten Premiere.
Immerhin galt für alle: Wagemut, unerschütterlicher Enthusiasmus und Können – perfekt das Auftreten der Profis, mit rührender Hingabe, Stimmkraft, Spiellust die elf Wochen lang intensiv trainierte Laienbruderschaft (in Tegel sitzen allein Männer ein).
Zeitigt doch gerade diese Mischung von Professionals und ‑ man darf sagen ‑ blutigen Laien eine ganz eigene Dynamik, eine besonders packende Spannung der Aufführungen; beispielsweise bei der Adaption von Richard Wagners Weihespiel „Parsifal“ (s. Blog 247/5. März 2018). Und auch jetzt wieder bei Ludwig van Beethovens idealistisch brausender Freiheitsoper.
Dafür extrahierte der Dramaturg Hans-Dieter Schütt Kernstücke des Original-Librettos, textete griffig, aber einfühlsam neu und versetzte diese fürs Verständnis der Story unentbehrlichen Passagen kontrapunktisch mit Fremdtexten.
Erzählt wird also nicht allein die Geschichte einer spektakulären Befreiungsaktion, der Rettung vor einem politischen Kerkermord, vielmehr werden ergänzend zum Libretto gewisse Grundthemen der Oper wie Liebe, Treue, Verrat, Moral oder Gerechtigkeit prononciert „diskutiert“, teils auch mit Blick auf die spezielle Situation der Darsteller (Gewalt, Machtmissbrauch, Bestechung, Korruption, Gier, Schuld, Strafe, Sehnsüchte in Zwangslagen). Dieser „Extra-Reflexion“ durch geschickt eingeschaltete Zwischenspiele dienen starke Texte etwa von Peter Weiss und Jean Genet, Rudolf Leonhard („Die Geiseln“), Heiner Müller, Georg Büchner oder Tricia Hedin („Frau eines Gefangenen“).
Passend zu diesen wirkmächtigen „Fremdtext-Zwischenspielen“ (Soli, Chor, Sprech-Chor) suchte Philharmoniker Simon Rössler etwa ein Dutzend Kompositionen aus Beethovens Werk und setzte sie neben zentrale Versatzstücke der „Fidelio“-Originalpartitur; freilich kammermusikalisch umgeformt (Klavier, Klarinette, Streicher). Eine gewiss komplizierte, doch in keinem Moment fragwürdige, sondern durchweg stimmige, mit Wucht, Tief- und Feinsinn überzeugende Sache ausgerechnet in den „Tegeler Trakten“, im historischen Backsteinbau von 1898, der eindrucksvollen, effektvoll ausgeleuchteten Kulisse mit hervorragender Akustik.
Und all das ganz in Beethovens Geist. Bewundernswert. Eine mit Verlaub mustergültige Klassiker-Anverwandlung, so speziell gegenwartsnah wie allgemein überzeitlich. So erschütternd wie begeisternd. Was für ein Kunststück!
(Wieder 26., 27., 28. Februar; 4.-6., 11.-13. März, 17 Uhr letzter Einlass. Karten via Volksbühne am Luxemburgplatz 030-240 65 777. JVA Tegel, Eingang Tor 2, Seidelstraße 39.)
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„Ganz Berlin ist heut in Rage, heut ist Künstlerball bei Kroll. Und es gibt keine Etage, wo nicht alles gänzlich toll. Gern vergisst man alle Plage, alles hat den Kopf heut voll, denn es ist nicht alle Tage großer Künstlerball bei Kroll.“ – Ein Gassenhauer der Kaiserzeit, der noch heute gern geschmettert wird auf nostalgischen Amüsierbretteln. Und wahrlich: Krolls Etablissement „im Thiergarten, nahe dem aristokratischen Theil der Friedrichstadt“ (etwa wo heute das Tipi-Zelt steht), dieser in gut einem Jahr von Preußens Stararchitekten hochgezogene und anno 1844 von Joseph Kroll eröffnete gigantische Unterhaltungsbetrieb war eine Weltberühmtheit, ein Berliner Wahrzeichen, ein Wunder an Prunk und moderner Technik. Einfach märchenhaft. Mit einer schier unglaublichen Fülle von Veranstaltungen aller Arten und spektakulären Events für bis zu 5000 Gäste. Hier trafen sich sämtliche Schichten der Gesellschaft. Hier war Amüsemang für jeden Geldbeutel und Geschmack von elitär, elegant, frivol, gutbürgerlich bis proletarisch plebejisch.
Die Besitzverhältnisse wechselten wie die kommerziellen Erfolge; schließlich verkaufte 1894 der letzte Besitzer, Brauereibesitzer Bötzow, den Riesenladen an den preußischen Fiskus für gut 2,5 Millionen Mark. Der heißt von nun an Neues Königliches Operntheater (Volksmund: Kroll-Oper) und wird vier Jahre lang entsprechend umgerüstet (jetzt: 1600 Plätze). 1901 eröffnet Hofkapellmeister Richard Strauss eine Konzertreihe mit Komponisten der Moderne. Ab 1907 gibt es „auf allerhöchsten Befehl“ Veranstaltungen für die Berliner Arbeiterschaft, organisiert durch den Verein der Freien Volkbühne.
1909 möchte der Kaiser den gesamten, ausladenden Komplex abreißen für einen Neubau der Königlichen Oper mit 2500 Plätzen (die Lindenoper hatte damals bloß 1500; jetzt: 1300 – zum Vergleich: die Deutsche Oper hat 1856). ). Der Abriss begann 1914, mit Kriegsbeginn wurden alle Arbeiten eingestellt, der Bau verkam zur Ruine. Nachdem der Verein Freie Volksbühne 1913 sein Schauspielhaus am damaligen Bülowplatz (heute: Rosa-Luxemburg-Platz) eröffnet hatte, bat sie Anfang der 1920er Jahre die öffentliche Hand um Unterstützung für den Ausbau der Kroll-Oper zu einem Volksoperntheater. 1924 wird das jetzt hochmoderne Haus wiedereröffnet und seit 1926 von der Preußischen Staatsoper Unter den Linden bespielt – unter „beschämend niedrigem Niveau“, so die Kritik. Drei Jahre später beschließt das Parlament die Trennung beider Opernhäuser.
Der Dirigent Otto Klemperer bekommt die Leitung der „Staats-Oper Am Platz der Republik“, wo nunmehr drei Institutionen ein teils avantgardistisches Programm bieten: die Freie Volksbühne, die Linden-Oper und eben die Kroll-Oper. Der Betrieb, „der am wenigsten kostet und den größten geistigen Anreiz bietet“ (Thomas Mann), floriert, trotzdem meint die Preußische Oberrechnungskammer, aus Spargründen Kroll schließen zu müssen. Die Letzte Vorstallung war Mozarts „Figaro“ unter Gustaf Gründgens Regie am 3. Juli 1931.
Nach dem Reichstagsbrand 1933 wird Kroll zum provisorischen Parlament (hier wird das „Ermächtigungsgesetz“ beschlossen) sowie genutzt für repräsentative politische und künstlerische Veranstaltungen. 1943 Kriegszerstörung; aber die Hülle stand noch. Wenige Tage nach Kriegsende 1945 wird schon wieder im Kroll-Garten getanzt. 1957 erfolgt, parallel zum Hohenzollern-Schloss im Osten, der Abriss der Ruine. – Was für eine Historie!
Kroll-Show im Salon-Theater
Das intime, aufs Berlinische fokussierte Theater im Palais hinterm Kastanienwäldchen am historischen Lindenforum hat sich – längst überfällig – der höchst komplexen Legende angenommen; eben der so wechselvollen und in Teilen künstlerisch wie politisch so bedeutenden Geschichte des Krollschen Vergnügungspalastes. Die versierte Autorin und Dramaturgin Barbara Abend hat aus der Fülle der Archive Wesentliches herausgepickt und pointiert zusammengefügt. Man erfährt, gleichsam blätternd in einem Bilderbuch, kulturgeschichtlich höchst Interessantes, darunter auch allerhand Neues – was unterhaltsam verpackt ist mit musikalisch-literarischen Fundstücken. Gabriele Streichhahn, Jens-Uwe-Bogadke und Carl-Martin Spengler erzählen, spielen, singen, trauen sich sogar ein Tänzchen. Alles mit Schmiss, Charme, Witz, aber auch ein bisschen Wehmut. Am Klavier wie immer die wunderbare Pianistin Ute Falkenau. ‑ Ein Abend nicht nur für Hobby-Historiker und Stadterkundler. Man hat seinen Spaß und noch dazu allerhand gelernt.
(Wieder am 28. Februar und am 9. April, jeweils 19.30 Uhr)
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Ende Januar erhielt die Schauspielerin Lilith Stangenberg in Hamburg den Ulrich-Wildgruber-Preis. Die an den Schauspieler Ulrich Wildgruber (1937-1999) erinnernde, mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung gilt in der Szene als Oscar des Nordens. Wer sie bekommt, darf es quasi amtlich nehmen: nämlich die Bestätigung, zur Spitze der deutschsprachigen Schauspielkunst zu gehören. Wir gratulieren!
Aus der Jury-Begründung: „Sie ist eine Extrem-Schauspielerin, besitzt faszinierende Wandlungsfähigkeit, mit der sie in ihre Rollen regelrecht hineinkriecht, um sie bis in die Haarspitzen zu verkörpern…“
In Berlin ist Lilith Stangenberg (31) gegenwärtig nur noch einmal zu erleben: Als Lulu in Frank Wedekinds gleichnamigem Stück, das am 1. März letztmalig auf dem Spielplan der Volksbühne steht. Mit dieser bedeutenden Rolle kehrte die Stangenberg im Mai 2019 zurück an den Rosa-Luxemburg-Platz, wo sie unter Frank Castorf zwischen 2012 und 2017 Vieles und Großes zu spielen hatte.
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<p>Hier ein Blick zurück ins Jahr 2019 auf die Premieren-Kritik dieser leider ziemlich verunglückten Inszenierung von Stefan Pucher. Dennoch, <strong>Lilith als Lulu</strong> wird mir in starker Erinnerung bleiben. Wer sie noch nicht erlebt hat: Letzte Gelegenheit <strong>am 1. März</strong>!</p> <p> </p> <p> </p> <p>Gleich am Anfang kommt schon das Ende: Die Prostituierte Lulu wird ekstatisch erstochen vom Frauenmörder Jack The Ripper. So will es <strong>Regisseur Stefan Pucher</strong> mit seiner avanciert zeitgenössischen Umformung von <strong>Frank Wedekinds „Monstretragödie“</strong> über Aufstieg und Fall der männerverschlingenden Lustmaschine Lulu.</p> <p> </p> <p>Die nun ist eine bitter-böse Collage aus Melodram und Dreigroschenroman, aus Farce, Kitsch, Komik, Trash und Tragik; ist zusammengesetzt aus übel wuchernden Männerfantasien, aus weiblicher Selbstbestimmung, die in grauenvoller Selbstvernichtung gipfelt, sowie aus den beiden Wedekind-Dramen „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“. Und es ist ein nun schon gut hundert Jahre altes, schauerlich zugespitzes Aufklärungsstück über sozial wie sexuell bestimmte Abhängigkeiten, über Macht- und Ohnmacht-Verhältnisse zwischen Mann und Frau sowie bürgerliche Doppelmoral.</p> <p> </p> <p>Freilich, das bizarr Provokante von 1913 ist heutzutage verflogen. Dennoch spiegelt die mit bürgerlichem Horror aufgeladene Geschichte allzeit Gültiges über das vertrackte Gegen- und Miteinander der Geschlechter.</p> <p> </p> <p>Aber diese uralte, ewig neue Geschichte interessiert Pucher nicht. Deshalb zeigt er anfangs artig Wedekinds finale Messerstecherei. Doch dann ist Schluss mit dem Alten. Jetzt folgt „Lulu“-neu von Stefan Pucher, bislang eher bekannt als Fachmann fürs Popkulturelle und Psychedelische als für Mann-Frau-Problematiken. Der will nun, segelnd auf modischer Welle, das vermeintlich vorgestrige Ding „aus der alten, von Männern für Männer gemachten Klapperkiste Theater“ (so steht‘s im Programmheft) zurechtstutzen im Geist von Me-Too und neuzeitlichem Feminismus. Er will eine Art Diskurs über nichts weniger als ein alternatives Bild von Mann und Frau.</p> <p> </p> <p>Dafür wird immerzu dozierend etwas ausgestellt, wobei man nicht immer genau weiß, wo man es hinstellen soll im Kopf. Kann man ja machen sogar in der alten Klapperkiste Theater. Doch wenn dort so gut wie überhaupt nichts mehr gespielt, sondern sich immer nur gegenseitig schrill monologisch angegangen wird (Krach als Ersatz für Intensität), kommt kein Theater zustande. Vielmehr gähnt da – bei allem Glanz Stangenbergs ‑ der Puchersche Demonstrationsbetrieb. Der in seinem blinden Eifer – auch das noch! – das Durchexerzieren vom neuen Bild, vom neuen Beziehungsgeflecht zwischen Mann und Frau so ziemlich aus den Augen verliert. Doch warum dann der ganze Betrieb? Bleibt es doch beim althergebrachten Auge um Auge, Zahn um Zahn; modisch kostümiert, performativ aufgemischt. Nix Neues also.</p> <p> </p> <p>Oder doch. Puchers innovatives Finale geht so: Lulu und Geschwitz zücken die Knarre, knallen die Männer ab und stürzen mit gezückter Waffe als freie Radikale von der Bühne raus ins Freie zwischen die Autos auf der Rosa-Luxemburg-Straße. ‑ Erst murkst der Kerl das Weib ab, später umgekehrt. Ist das der Fortschritt? Oder Feminismus? Oder was?</p>
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder
1. Vaganten Nathan abgespeckt und aufgepeppt
2. Berliner Ensemble Remmidemmi ohne Ende
3. Atze Musiktheater Ernst gemeint im Spiel
1. Staatsballett Zwischen Laufsteg und Happening
2. Gorki Kafka wird der Prozess gemacht
3. Hans Otto Theater Vom Tod eines Unsterblichen