Heute: 1. Komische Oper – "Messeschlager Gisela" / 2. Theater Strahl – "Wir holen uns die Nacht zurück" / 3. Atze Musiktheater – im Luftschloss auf dem Tempelhofer Feld
Heiteres Musiktheater, dieser Begriff wurde in den 50er Jahren in der DDR geprägt, um ein neues Genre zu definieren, das sich an den Traditionen der klassischen Operette orientieren, aber Geschichten aus dem Alltag der Menschen erzählen sollte.
„Messeschlager Gisela“ von Gerd Natschinski und Jo Schulz ist ein solches heiteres Musiktheater-Stück, das 1960 im Metropoltheater (dem heutigen Admiralspalast) mit großem Erfolg uraufgeführt und in kurzer Zeit auf 24 Bühnen ebenso erfolgreich nachgespielt wurde, nach dem Mauerbau 1961 aber gänzlich von den Spielplänen verschwand.
Worum geht’s? Gisela Claus (Gisa Flake) ist stellvertretende Gestalterin im VEB Berliner Schick und hat ein Kleid entworfen, das zur Arbeit, aber auch abends in der Bar getragen werden kann. Sitzungen könnte frau darin auch leiten. Also genau das, was gebraucht und gewollt wird, nur nicht vom Betriebsleiter Robert Kuckuck (Thorsten Merten), der seine Autorität untergraben sieht und sich von Frauen – bei aller Gleichberechtigung – nicht gern was sagen lässt.
Aber eine Idee, die es mit Giselas Kleid aufnehmen könnte, lässt sich partout nicht blicken. Eine Reise nach Paris wird angestrebt, um Anregungen zu bekommen, scheitert aber an den fehlenden Westdevisen. Das war übrigens auch der Grund dafür, dass „Messeschlager Gisela“ nicht mehr aufgeführt wurde: Reisen ins nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, wie das im DDR-Jargon hieß, waren unerwünscht und ja auch gar nicht mehr möglich.
Alles, was ein gutes Stück braucht
Der Chef entwirft dann doch noch ein Gegen-Kleid, das von seiner herrlich berlinernden und den Laden schmeißenden Sekretärin (Maria-Danaé Bansen) zur Messe vorgeführt werden soll. Aber natürlich kann das Modell Melone es mit Giselas Kleid nicht aufnehmen. Vorangetrieben durch die Chefnäherin Emma Puhlmann (Andreja Schneider) und unterstützt durch die Belegschaft vom „Berliner Schick“ und einen Reporter (Nico Holonics), der sich nicht nur für Giselas Kleid, sondern für sie selbst interessiert und sich – um ihr näher zu kommen als Transportarbeiter verkleiden muss – wird natürlich am Ende in der Modenschau der Leipziger Messe ihr Kleid zum Messeschlager. In den diversen Liebesdingen wendet sich auch alles zum Besten, wie es sich für eine gute Operette oder eben ein heiteres Musiktheater-Stück gehört.
Die Komische Oper will sich in den nächsten Jahren diesem Genre widmen und hat im Zelt am Roten Rathaus mit dem „Messeschlager Gisela“ einen vielversprechenden Anfang gemacht.
Begeisterung, Spaß und Freude auf der Bühne und im Publikum
Adam Benzwi dirigiert das 30köpfige Orchester (die Originalpartitur sieht 50 Instrumente vor, aber so viel Platz ist nicht) mit Begeisterung. Freude und Spaß haben alle Beteiligten, das ist an diesem Abend vom ersten Moment zu merken und überträgt sich schnell auf das Publikum, das das Zelt bis auf den letzten Platz, sogar die Stehplätze im oberen Rondell füllt.
Axel Ranisch führt Regie. Zuletzt war er als Regisseur im Sprechtheater unterwegs, Im BE bei „Mutti, was machst du da?“ (mehr dazu im Blog NR. 462 vom 18. Dezember 2023). Ich hatte den Eindruck, dass er hier gar nicht so viel zu tun hatte. Die Songs von Gerd Natschinski, der auch für den Film geschrieben und viele Schlager komponiert hat, haben das Zeug zu Ohrwürmern, und die Dialogszenen spielen sich quasi von selbst.
Saskia Wunsch hat sich an die Gegebenheiten des Zeltes angepasst und sinnfällige Lösungen für die Bühne gefunden: Sie besteht aus einem mehrstufigen Rondell, aus deren Rand Schubladen gezogen und zum Beispiel Nähmaschinen rausgeholt werden. Mit wenigen Mitteln entseht auch der Leipziger Hauptbahnhof und das Ring-Messehaus.
Großartig Chor (Leitung: David Cavelius) und Ballett (Choreographie: Christopher Tölle), die wahrlich nicht viel Platz haben und häufig zwischen Bühnenrand und erster Reihe ebenfalls mit vollem Einsatz tanzen und singen.
Bedauerlich ist, dass dieser ganze große Aufwand nur für wenige Vorstellungen betrieben wird, alle Abende bis auf wenige Stehplätze ausverkauft sind und im Zelt bereits am 7. Juli zum letzten Mal gespielt wird.
Nachtrag: Die Komische Oper hat mitgeteilt, dass es eine Zusatzvorstellung am 6. Juli gibt. Hier geht's zu den Karten.
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Kaja und Ilvy kenn sich schon immer und sind auch schon immer befreundet. Zwei Mädchen, wie sie unterschiedlicher nicht ein könnten.
Kaja, die Wilde, Unberechenbare, vor Einfällen Sprühende – immer bereit für Abenteuer und auf der Suche nach neuen Herausforderungen.
Und Ilvy, die Stille, die auch gern für sich ist, sich die Welt in Ruhe betrachtet und viel nachdenkt, zeichnet und schreibt. Die sich aber auch mitziehen lässt und die Verrücktheiten, die Kaja ersinnt, in vollen Zügen genießt.
Erst nach und nach erkennt Ilvy, dass hinter dieser Gier auf Leben eine knallharte Sucht steckt, eine gefährliche Mischung aus chemischen Drogen und Alkohol. Ilvy will helfen, will Kaja wegbringen von den Drogen, verfällt aber auch immer wieder deren Versprechen aufzuhören und gerät dabei in eine Co-Abhängigkeit und sogar in Lebensgefahr.
Einfache Mittel – große Wirkung
„Wir holen uns die Nacht zurück“ entstand nach einem Roman von Nora Hoch. Das Ensemble um Regisseurin Masha Sapizhak hat daraus eine 90minütige Spielfassung gemacht, was an sich schon eine Leistung ist.
Die Bühne von Arina Slobodianik besteht aus einem weißen Schreibtisch mit Stuhl, einer Kletterstange und einer Vielzahl von rollbaren Kleiderständern, an denen durchsichtige Plastikstreifen hängen. Diese beweglichen „Wände“ können fix hin- und hergefahren werden, bilden Räume, Landschaften und werden zu Projektionsflächen, zum Beispiel, als Kaja nach einem Drogenexzess auf der Intensivstation landet über die Plastiklamellen die unruhige EKG-Kurve ihres Herzen flimmert.
Starkes Schau-Spiel
So unterschiedlich die beiden Mädchen sind, so verschieden agieren Jana Heilmann als Kaja und Anne Sofie Schietzold als Ilvy.
Jana Heilmann entert die Bühne wie ein Springteufel, klettert blitzschnell die Stange hinauf, schlägt Haken, ist laut, wirbelt ihre Partnerin herum, versinkt aber auch plötzlich in Starre und wird ganz still, um gleich darauf wieder los zu preschen.
Anne Sophie Schietzold spielt ihre Ilvy mit einer tiefen inneren Ruhe. Man mag den Blick nicht abwenden, um keinen Moment zu verpassen von dem körperlichen, aber vor allem Minenspiel der Schauspielerin. Freude und Staunen wechseln sich auf ihrem offenen Gesicht ab mit tiefer Verzweiflung. Man kann zusehen, wie die Gedanken im Kopf der Schauspielerin entstehen, Angst zu Wut wird, Zögern zum Handeln führt. Anne Sophie Schietzolds Spiel gehört in seiner Intensität zum Eindrucksvollsten, was ich in dieser Spielzeit im Theater gesehen habe.
Leon Zawadi Kasili als Kaan, der Junge, der Ilvy liebt und eine Menge für sie tut, hat es anfangs schwer, sich inmitten der beiden Frauen zu behaupten, wird aber immer besser und legt als Drogendealer im froschgrünen Regenmantel mit blonder Perücke und Sonnenbrille eine Glanzleistung hin.
Im Roman tauchen noch viele andere Figuren auf, die hier durch raschen Wechsel von Kostümteilen sinnfällig werden. Und die Inszenierung schafft es nebenbei und doch eingebunden in die Handlung auch noch, im Publikum Flyer zur Beratungsangeboten zu verteilen.
Die Vorstellung, die ich sah, war ausverkauft. Hundert junge Menschen zwischen 16 und 18 verfolgten das Geschehen auf der Bühne ohne dass geschwatzt wurde. Kein unruhiges Hin- und Herrutschen, kein aufblinkendes Smartphonedisplay...
Die Inszenierung ist völlig zu Recht für den IKARUS-Theaterpreis 2024 nominiert. Ich drücke die Daumen!
Theater Strahl im Kulturhaus Schöneberg, Termine im September, Oktober und November.
UND NOCH EIN EXTRA STRAHL-TIPP :
Am 22. Juni feiert das Theater Strahl seine erste Spielzeit am Standort Ostkreuz mit einem Sommerfest für die ganze Familie. Ab 14 Uhr gibt auf zwei Etagen sowie Hof und Garten ein buntes Programm aus Bühnen- und Technikshow, Workshops, Hausführungen, Kinderschminken, Spielestation, kulinarischem Angebot und vielem mehr! Das gesamte Programm finden Sie hier.
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Das Atze Musiktheater hat sein Sommerdomizil bezogen: Das Luftschloss auf dem Tempelhofer Feld.
Bereits im letzten Jahr konnte man dort Theaterabende und -nachmittage unter freiem Himmel erleben. Das Luftschloss ist ein hölzerner Rundbau, in dem ein Drittel die Bühne einnimmt. Davor kann man auf Stühlen sitzen und auf drei rundum laufenden übereinander angeordneten Ebenen finden große und kleine Zuschauer und Zuschauerinnen ganz lässig Platz. Es kann gegessen und getrunken werden, und wenn es ganz furchtbar heiß ist, werden Sprühflaschen mit Wasser ausgegeben.
Im Juni, Juli und August gibt es jeweils ein Familien- und ein Abendprogramm.
Tagsüber sind laufende Atze-Produktionen zu sehen, abends wechselt Comedy mit Konzert und Theater.
Das Luftschloss ist gut zu erreichen, nur wenige Minuten zu Fuß vom Haupteingang Tempelhofer Feld – und damit auch vom S-Bahnhof Tempelhof – entfernt.
Direkt daneben gibt es eine Bar mit gutem Angebot und nettem Personal. Einem Ausflug mit der Familie oder mit Freunden steht also nichts im Wege.
Die Neuproduktion in diesem Jahr ist „Lotta zieht um“ nach der Erzählung von Astrid Lindgren, die vielen Eltern und Kindern bekannt sein dürfte.
Lotta ist das Nesthäkchen der Familie und fühlt sich von ihren beiden wesentlich älteren Geschwistern schlecht behandelt. Auch ihr alleinerziehender Papa macht nicht alles so, wie Lotta es will. Und so beschließt sie auszuziehen und findet ein neues Zuhause auf dem Dachboden der Nachbarin. So lange es draußen hell ist, ist alles prima und allein leben macht Spaß, aber wenn es dunkel wird?
Kunterbunte Effekte
Die Inszenierung von Kay Dietrich geht auf Nummer Sicher: Geeignet von 2 Jahren bis 80 Jahren.
Das Bühnenbild besteht aus mehreren Häuschen, jedes in einer anderen Farbe. Auch die Kostüme der Rollen sind in jeweils einer Farbe gehalten, der Wiedererkennungeseffekt ist beabsichtigt und funktioniert bestens – allerdings auf Kosten der Figurengeschichten, die blass bleiben.
In dieser knapp einstündigen Aufführung wird generell auf Effekte gesetzt, so dass alles zwar schön bunt daherkommt, aber ansonsten doch schlicht anmutet, was leider auch die Musik von Thomas Sutter betrifft. Da ist man von Atze doch Anderes gewöhnt.
Es spielen Jonathan Bamberg, Konstanze Kromer, Adrienn Nagy, Marcel Siegel, Mora Thurow und Jochen Weichenthal, unterstützt von einem riesigen rosa Schweinebär. In der Premiere war Jung und Alt begeistert. Viel Applaus.
Luftschloss auf dem Tempelhofer Feld, den ganzen Sommer lang. Hier geht's zu den Karten.
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder