In Bewegung bleiben
HEUTE: 1. Buchbesprechung - Frank-Rüdiger Bergers Würdigung des Romantischen Balletts und seiner Protagonist*innen / 2. Dokumentar-Film - "In Bewegung bleiben" / 3. „STRAW!NSKY“-Abend des Balletts am Staatstheater Cottbus im Hans-Otto-Theater Potsdam zu Gast
Frank-Rüdiger Berger hat ein Buch geschrieben. Nein: ein Werk! 1.269.762 Zeichen auf 340 Seiten mit 90 Abbildungen und 1410 Fußnoten. Nun muss Quantität nicht für Qualität stehen, doch hier ist es so. Unter dem Titel „‘Enthusiasmus ist noch zu wenig gesagt‘ Die Stars des romantischen Balletts: sechs biographische Pas de deux“ erfahren wir nicht nur von Leben und Werk der „Paare“ Marie und Filippo Taglioni, Paul und Marie Taglioni d. J., Fanny und Therese Elßler, Carlotta Grisi und Jules Perrot, Fanny Cerrito und Arthur Saint-Leon und schließlich Lucile Grahn und August Bournonville, sondern auch von dem gesellschaftlichen und künstlerischen Umfeld, in dem sie tätig waren. Das umfangreiche Quellenstudium des Autors ermöglicht ihm ungezählte Original-Zitate.
So liest man über den in Berlin tätigen Ballettmeister Paul Taglioni und seinen größten Erfolg „Flick und Flock’s Abentheuer“ aus der Berliner Börsen-Zeitung 1858: „Was das Ballet selbst betrifft, so hat es allerdings keinen Inhalt; es bietet uns keine Fabel, die uns irgendwie interessiren und demselben einen Anspruch auf den Titel eines Tanz-Poëms verleihen könnte: aber es reiht so viel Neues, Prächtiges, Hübsches, Ueberraschendes, Glänzendes und Pikantes aneinander, daß selbst der verdrießlichste und zum Tadel geneigteste Kritiker aus der Aufregung des Staunens nicht herauskommt und willig in den jubelnden Beifall mit einstimmt, mit welchem das Publikum dies neueste Werk Taglioni’s aufgenommen hat. Welch eine Phantasie gehört dazu, all‘ diese Scenen, diese Einfälle, diese Verwandlungen, diese Pracht zu denken, zu ordnen, zu einem Ganzen zu gestalten!“
Fraglos könnte man hier den Vorläufer des heutigen Erfolgskonzeptes des Berliner Friedrichstadtpalasts erkennen. Dieses Buch ist so – neben seiner Internationalität – eben auch ein gutes Stück Berliner Geschichte. Therese Elßler zum Beispiel, die als erste Frau ein abendfüllendes Ballett („La Volière“ von 1838 in Paris) auf die Bühne gebracht hat, ist in Berlin-Mitte begraben. Nach ihrem Mann, Prinz Adalbert, ist die Adalbertstraße benannt. Ihre Heirat fand 1850 im Schloss Monbijou statt.
Ihre Schwester Fanny ging auf Amerika-Tournee und gastierte in New York, Havanna und anderen Städten. Das war damals eine in jeder Hinsicht abenteuerliche Seltenheit. Über deren Tanzstil heißt es, hier wieder so ein bemerkenswertes Zitat, bei Charles Maurice im Courrier des théâtres anlässlich ihres Debüt an der Pariser Oper 1834: „Frl. Fanny tanzte in einem ihr sehr eigenen Stil ... Nur wenn man sie sieht, kann man von ihr eine genaue Vorstellung bekommen, denn keine Beschreibung könnte angemessen sein. Die Kenner nennen ihren Stil eine Danse tacquetée, was bedeutet, dass ihr Tanz vor allem aus kleinen Schritten besteht, schnell, präzise, sich in die Bretter fressend, und immer so energisch und fein, wie anmutig und glänzend. Der Spitzentanz spielt eine wichtige Rolle in ihrem Tanz und erfordert Beachtung und Bewunderung; sie umkreist die Bühne ohne ersichtliche Mühen und ohne ihren unglaublichen Aplomb oder ihren sanften Zauber zu verlieren. Es könnte keinen auffälligeren Gegensatz zu dem zu Recht geschätzten Talent von Frl. Taglioni geben, deren Tanzen ganz ballonné ist.“
Es sind eben diese historischen Dokumente, die der Autor gefunden und an so treffenden Stellen wiedergegeben hat, dass einem das gesamte Ballett-Wesen der Romantik deutlich vor Augen steht und man meint, dabei gewesen zu sein. An dieser Stelle sei auch den Archiven und Archivar*innen gedankt, dass sie durch ihre Intention und Profession Geschichte in der Form von Dokumenten bewahren und überliefern, damit Geschehenes eben dadurch wiederbelebt werden kann. Auch wäre dieses Buch nicht möglich ohne die vielen Männer, die im 19. Jahrhundert über das Ballett als Kunstform geschrieben haben. Es ist bemerkenswert, mit welcher Fachkenntnis und welcher Achtung und Zuneigung sie über Tänzerinnen und Tänzer, über Choreografien und über die Mühen geschrieben haben, die es bedeutet, ein Werk auf die Bühne zu bringen.
Frank-Rüdiger Berger hat sie und die Stars des Romantischen Balletts mit seinem Buch reanimiert. Über die fantasievollen Choreografien von Paul Taglioni für das Corps de ballet in Berlin weiß der Autor zu zitieren: „Was Taglioni hierin (…) geleistet, grenzt an das Wunderbarste …“. Fraglos lässt sich diese Aussage auf dieses Werk von Frank-Rüdiger Berger anwenden. Dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung!
Frank-Rüdiger Berger: „Enthusiasmus ist noch zu wenig gesagt“ Die Stars des romantischen Balletts: sechs biographische Pas de deux. Gesellschaft für Theatergeschichte, Band 82, Berlin 2020. 340 S. mit 90 Abb. ISBN 978-3-924955-23-6; 59,- €
Der Regisseur Salar Ghazi hat sich 2009 auf den Weg gemacht, um an ein besonderes Tanz-Theater-Ereignis aus der Spätzeit der DDR zu erinnern, die Protagonist*innen von damals zu treffen und sie heute nach ihren Erinnerungen, nach ihren Wünschen, Sorgen und Träumen aus dieser Zeit zu befragen. Entstanden ist so – nach 12 Jahren Arbeit ohne jegliche Förderung – ein mehr als zweistündiges Porträt der Choreografie „Keith“, der Choreografin Birgit Scherzer, ihrer engsten Vertrauten und ihrer Tänzer: Sven Grützmacher, Raymond Hilbert, Uwe Küßner, Mario Nötzel, Mario Perricone und Thomas Vollmer.
Uraufgeführt 1988 an der Komischen Oper Berlin wurde „Keith“ von Publikum und Presse enthusiastisch aufgenommen. Dies war der Start für die dann folgende Karriere der Choreografin. Nur konnte diese in der DDR nicht beginnen, weil sich die Künstlerin einer politisch hochwichtigen und ebenso brisanten Auftrags-Arbeit für den Palast der Republik verweigert. Dafür wird sie damals mit Ausgrenzung bestraft. Das Ende dieser Situation weder abschätzen noch beeinflussen könnend, flieht sie in die Bundesrepublik. Tänzer ihrer Choreografie werden es ihr gleichtun.
Ihr damaliger Lebenspartner Klaus Dünnbier berichtet daher auch emotional darüber, wie er dem Sohn David Scherzer, später selbst Tänzer, die Wahrheit von der Flucht der Mutter schweigend vermitteln musste. Der Tänzer, auch Schauspieler und Ballettdirektor Roland Gawlik ist die große Klammer um all die Ereignisse und Personen. Aus Frankfurt am Main stammend, verbleibt er nach dem Mauerbau in der DDR und resümiert im Film, dass auch die 40 Jahre in diesem Deutschland ein Leben waren.
Klug und reflektiert erzählen die Tänzer von ihren familiären Herkünften in der DDR, von ihren Wegen zum Tanz, der Arbeit an „Keith“ und von den ersten Tournee-Erfahrungen im Westen. Dass sie privilegiert waren, wie die Schwester Steffi Scherzer, ehemalige Primaballerina des Balletts der Deutschen Staatsoper, es sagt, wussten sie alle. Dass der Preis die vollständige Überwachung durch die Staatssicherheit war, wussten sie ebenso. Zu erfahren, wie sie damals versucht haben, damit umzugehen und fertigzuwerden, ist noch heute bedrückend. Ihre Aussagen werden nicht kommentiert. Wer mag, bilde sich dazu seine Meinung. Berührend ist auch, wie sie sich zu ihren nicht mehr lebenden Kollegen Gerald Binke und Mike Knospe äußern.
Entstanden ist so ein Zeitdokument in schwarz-weiß, das die historischen Aufnahmen mit den aktuellen so klug zusammengefügt, dass Jahrzehnte Tanz- und Persönlichkeitsentwicklung durch Dokumentation und Reflexion erfahrbar werden. Wer wissen will, wie es – über den Bereich Tanz hinaus – in der DDR war, kann es hier erfahren. Auch nach mehrmaligem Ansehen will sich bei mir keine Länge einstellen, so dicht ist die Geschichte mit der Gegenwart verbunden. Ein wunderbar einfühlsamer Film, der jederzeit im Internet verfügbar ist. Unbedingt ansehen!
„In Bewegung bleiben“; Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera, Schnitt: Salar Ghazi; Musik: Gert Anklam, Beate Gatscha; Spielzeit: 2:19, 2021. Hier verfügbar.
Dass die Premiere des Balletts „Le sacre du printemps“ 1913 in Paris für den wohl bekanntesten Theaterskandal der neueren Theatergeschichte gesorgt hat, ist inzwischen Allgemeinwissen. Trotzdem gehören Ballett-Kompositionen selten auch zum Konzert-Repertoire. Bei Igor Strawinskys Werken ist das anders, so dass diese Ballett-Aufführungen gern auch live von Orchestern begleitet werden. So war es nun auch – kurz nach der Premiere am 19. März in Cottbus – am gerade vergangenen Wochenende im Hans-Otto-Theater in Potsdam zu erleben. Man kann der Intendantin Bettina Jahnke und ihrem gesamten Team nicht genug dafür danken, dass sie dieses aufgrund der guten Sichtachsen sehr geeignete Haus auch für den Bühnentanz öffnen.
Es gab übrigens früher auch ein Ballett-Ensemble in Potsdam. Namen wie Gertrude Baum-Gründig, Inka Unverzagt und Hermann Rudolph oder auch Anneliese Grebing und Ingeborg Schiffner könnten den älteren Zuschauer*innen noch bekannt sein. Während die anderen Ensembles in Brandenburg erst durch Wende und Wiedervereinigung verschwanden, war es in Potsdam wohl der Mauerbau, der die Stadt damals ins Abseits katapultierte und Schließung verursachte.
Eine Bemerkung zur Musik vorab: Das Philharmonische Orchester ist unter der Leitung von GMD Alexander Merzyn in großartiger Verfassung. Und das ist bei diesem Abend mit dieser Musik von ganz entscheidender Bedeutung!
Adriana Mortellitis Choreografie „Petruschka“ eröffnet den Abend und erzählt die Geschichte, wie sie geplant ist: Petruschka, die Ballerina und der Andere (ursprünglich: der „Mohr“) werden fremdbestimmt und können ihre eigenen Persönlichkeiten nur bedingt ausleben. Die Liebe von Petruschka zur Ballerina erwidert diese nicht, weil der oder das Andere doch zu verlockend ist. Hier wird der Konflikt damit „gelöst“, dass der Andere Petruschka tötet. Die Ballerina trauert. Zu spät.
Ursprünglich bestand das Stück allerdings auch aus sehr vielen Szenen auf dem Jahrmarkt. Aber den Tanz des Bären oder den der Droschkenkutscher z. B. hört man zwar, sieht sie aber nicht. Aus den Jahrmarkts-Unterhaltungen ist ein tänzerisches Divertissement geworden. Tanz um des Tanzes Willen – eine gute Idee.
Fraglos beeindruckend sind unter den Protagonisten Alyosa Forlini als Petruschka und Stefan Kulhawec als der die Figuren lenkende Gaukler.
Nach kurzer Verschnaufpause für Stefan Kulhawec kann dieser sich in dem zweiteiligen Solo „Piano Rag Music + Tango“ in der Choreografie von Uwe Scholz von verschiedenen Seiten zeigen: als von der Musik getriebener Tanz-Virtuose und als expressiv tanzender Mann. Und das tut er überzeugend. Beides!
Nach der Pause dann „Le Sacre du printemps“. Allein die Musik und was sie eigentlich „ausdrückt“ – der reine Horror. Neben ihr zu bestehen, ist eine Herausforderung. Dem Choreografen Nils Christe gelingen beeindruckende Szenen physischer Präsenz in dieser nicht abzuwendenden Dramaturgie: Männer – Frauen – Ekstase. Aber er verzichtet auf die Nacherzählung der ursprünglichen Handlung und gibt so Einzelnen die Gelegenheit, sich zu präsentieren. Hier ist jede eine Erwählte, jeder ein Erwählter. Das ist gerade für heute ein interessanter Ansatz.
Es zahlt sich also aus, dass Ballettdirektor Dirk Neumann das Ballett als eigenständige Sparte am Staatstheater Cottbus aufbauen und etablieren konnte.
Das Potsdamer Publikum war nicht nur aus dem Häuschen, sondern außer Rand und Band. Die Kommentare reichten von „irre“ und „wirklich toll“ bis zu: „Was in Cottbus alles so abgeht!“ Und was nach Cottbus erst alles so abgeht: Mit dem Regionalexpress der Deutschen Bahn dauert die Anreise gerade einmal 1:18h. Das Theater Cottbus von 1908 ist ein architektonisches Kleinod im Jugendstil, das jede/r Theaterbegeisterte einmal gesehen haben sollte. Der Strawinsky-Abend böte eine gute Gelegenheit.
STRAW!NSKY
Petruschka – Ballett von Adriana Mortelliti ○ Uraufführung
Piano Rag Music + Tango – Solo von Uwe Scholz
Le Sacre du Printemps – Ballett von Nils Christe
Ballett am Staatstheater Cottbus, nächste Vorstellungen: 17. April und 06. Mai.
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