HEUTE: 1. Theater des Westens: „Ku’damm 56 – Das Musical“ / 2. Komische Oper Berlin: „Orfeo ed Euridice“
Ich war nie in der Tanzschule. Aber von meiner Schwester und einigen Mitschülern erfuhr ich, wie es da so zugeht. Dass man neben Tanzschritten auch Benehmen lernt. Von Herrenwahl und Damenwahl und Etikette, und das in den wilden 1970ern. In der Hippie-Ära wirkte die Tanzschule aus der Zeit gefallen. Immerhin: Neben Foxtrott und Walzer schob Mann die Dame immerhin schon zu Rumba und Cha-Cha-Cha übers Parkett, und manchmal wirbelten die Paare sogar zu Rock 'n' Roll.
Undenkbar bei Caterina Schöllack am Kurfürstendamm anno 1956. „Urwaldmusik“ bleibt außen vor in der Tanzschule „Galant“, wo Mutter Schöllack, der Name erinnert an die alte Schellack-Platte, ein strenges Regiment führt. Wo andere ein Herz haben, sitzt bei ihr ein Metronom. Unter den überkommenen Moralvorstellungen, in denen Halbstarke und ihre „Bumsmusik“ die Gesellschaft gefährden, leiden nicht nur die Schülerinnen und Schüler auf dem Parkett.
Die drei Töchter hat Caterina größtenteils alleine groß gezogen, ihr Mann gilt seit 1944 als verschollen. Helga, Eva und Monika sollen möglichst vorteilhaft unter die Haube kommen und so gesellschaftlich etabliert werden. Der Ruf der Familie geht über alles. Doch Monika macht da nicht mit. Das Mädchen lehnt sich auf gegen Bigotterie und biederes Rollenverständnis. Dabei hilft ihr nicht zuletzt ihr Tanzpartner Freddy im Lokal „Mutter Brause“, sowie die neue, heiße Musik aus Übersee, der Rock 'n' Roll.
Aus dem Fernsehen auf die Musicalbühne
„Ku’damm 56“ war 2016 ein sehr erfolgreicher Dreiteiler im ZDF. Die Produktion wurde für den Grimme-Preis nominiert und mit zwei weiteren Trilogien fortgesetzt. Drehbuchautorin Annette Hess erzählte die jugendliche Rebellion der 1950er-Jahre aus der Perspektive junger Frauen. Die Geschichte von familiären Auseinandersetzungen, deutscher Vergangenheitsbewältigung, Entdeckung der Sexualität und weiblicher Selbstbestimmung hat nun auch den Weg auf die Musicalbühne gefunden. Gemeinsam mit Peter Plate und Ulf Leo Sommer, dem Songschreiberduo für Rosenstolz, Max Raabe, Sarah Connor, entwickelte Annette Hess eine Bühnenversion.
Im November feierte die Produktion von Stage Entertainment Uraufführung im Theater des Westens. Ich habe nicht die Premiere gesehen, sondern im Januar eine ganz normale Vorstellung. Aber was heißt schon normal in Corona-Zeiten, in denen ein Theaterbesuch nicht leicht zu planen ist. Obwohl nicht mal die Hälfte der Plätze besetzt war, gab es am Ende stehende Ovationen. Zweifellos hat die Story das Publikum emotional sehr berührt. Monika, als „Brillenschlange“ verspottet, ist das hässliche Entlein, das Mauerblümchen, das sich frei tanzt. Doch was Monika durchmacht, geht über übliche Musical-Plots weit hinaus. Auch wenn zu Anfang, im Song „Monika“, jede Menge Retro-Mikrofone vielfarbig leuchten, ist „Ku’damm 56“ keine nostalgische Wirtschaftswunder-Revue.
„Was ist die Frau ohne Mann, wenn sie sich nicht führen lassen kann?“ fragt Mutter Schöllack singend. Führerlos! Das ist hier natürlich mehrdeutig gemeint. Es geht um Menschen, die neue Werte, neue Orientierung suchen, während andere verzweifelt an den alten Vorstellungen und ihren Lebenslügen festhalten.
Keine Wirtschaftswunder-Revue
Man kommt leichter mit, wenn man die TV-Fassung kennt. Fast alle Handlungsstränge der ersten Staffel werden auch auf der Bühne aufgegriffen. Oft parallel. Während man zum Beispiel Helgas missglückte Hochzeitsnacht mitverfolgt mit dem vermeintlichen Göttergatten, der eigentlich Männer liebt, sieht man auf einem anderen Teil der Bühne, wie Monika von dem betrunkenen Industriellensohn Joachim Franck zum Sex genötigt wird.
Diese Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird durch eine größtenteils leere Spielfläche ermöglicht. Keine Tanzschule wurde nachgebaut, es gibt kaum Berlin-Kolorit und noch weniger Detailverliebtheit zum Design der Fuffziger, was im Fernsehen gerade den Charme ausmachte. In der Ausstattung von Andrew D. Edwards könnte so ziemlich jedes Musical spielen, was kein Nachteil ist.
Für Flexibilität der einzelnen Szenen sorgt ein fahrbares Gerüst, das auch die rasant aufspielende Sechs-Mann-Kapelle (die „Mutter Brause“-Band unter der Leitung von Caspar Hachfeld) zwischendurch in den Vordergrund befördert. Umrahmt wird die Bühne von den Wänden einer zerbombten Villa: die Behausung von Monikas Tanz- und späterem Liebespartner Freddy, der, wie sich bald rausstellt, der Judenverfolgung als einziger aus seiner Familie knapp entkam.
Harter Stoff zu flotter Musik
Es ist nicht zuletzt die unmittelbare Vergangenheit, die wie Blei auf der Familie Schöllack lastet, Arisierung und Völkermord, medizinische Versuche an Häftlingen, Vertreibung und Kriegsgefangenschaft. Dazu schwingt sich nun die Waffenindustrie zu erneuten Geschäften auf, werden auch in der jungen Bundesrepublik Kommunisten und Homosexuelle drangsaliert. In der psychiatrischen Klinik, in der Monikas Schwester Eva arbeitet, versucht man, „sexuelle Abnormitäten“ mit Elektroschocks zu behandeln.
Ziemlich harter Stoff also für eine Geschichte aus der Tanzstunde. Doch als Pop-Musical funktioniert es. Baute man im ZDF auf den Originalsound von Little Richard, Elvis, Gene Vincent oder Bill Haley, schrieb das Musikautorenduo eigene Songs, die weniger den rebellischen Geist der 1950er widerspiegeln, eher an die 1990er-Jahre erinnern. Das klingt manchmal hitverdächtig (die Hymne „Berlin Berlin“ gesungen von David Jakobs), manchmal aber ein bisschen wehleidig und ichbezogen.
Zum Glück überzeugen die Solistinnen und Solisten (es gibt verschiedene Besetzungen) durchweg mit großer Stimme, reihen sich dann aber wieder gesanglich und tänzerisch ins Ensemble ein. Eine tolle Teamleistung, schmissig, ausgebufft, unter der Leitung des angesagten Musical-Regisseurs Christoph Drewitz hoch professionell präsentiert, wie man es von der Stage-Schule auch erwarten darf.
Man fühlt sich unterhalten, hat auf dem Nachhauseweg noch die eine oder andere Melodie im Ohr und macht sich zugleich so seine Gedanken über das Schicksal der Menschen. Das kommt nicht nach jedem Musicalbesuch vor.
Ku'damm 56 - Das Musical in Berlin | Stage Theater des Westens | 01.02. – 24.04.2022
Ohne Orpheus keine Oper. Der Mythos vom thrakischen Sänger, der mit seiner berührenden Stimme Götter, Menschen und Naturgewalten zähmt, der seine verstorbene Geliebte Eurydike aus dem Jenseits zurückholt, um sie kurz darauf erneut auf tragische Weise zu verlieren, er ist mit der Entstehung der Gattung Oper eng verbunden. Peri, Caccini und Monteverdi waren Anfang des 17. Jahrhunderts die ersten Tonkünstler, die sich des antiken Stoffes annahmen, unzählige Komponisten sollten folgen.
Als Christoph Willibald Gluck (1714-1787) die Geschichte vertonte, befand er sich also auf bekanntem Terrain. Und ebnete mit seinem Werk den Weg zu einer neuen Art von Musiktheater. „Orfeo ed Euridice“ ist die erste der drei so genannten Reformopern, die Gluck gemeinsam mit seinem italienischen Librettisten Ranieri de’ Calzabigi verfasste. Glaubwürdiger, näher an den Wahrheiten des Lebens sollte es zugehen. Schnörkellos, ohne dramaturgischen Schnickschnack des bis dato in der Opera seria gängigen barocken Ränkespiels. Mit nur drei Solopartien, Orpheus, Eurydike und Liebesgott Amor, während dafür dem Chor und dem Ballett eine größere, die Handlung mitbestimmende Rolle zukommt.
Die Konzentration aufs Wesentliche hört man auch in Glucks Musik. Schlichterer, „natürlicher“ Gesang statt virtuoser Koloraturen, kein stundenlanges Wechseldich zwischen Secco-Rezitativ und Arie wie in den meisten Barockopern, dafür viele durchkomponierte Passagen. 1762 am Namenstag des Kaisers vor dem gesamten Wiener Hofstaat uraufgeführt, ist das Werk ein für die Musikgeschichte wichtiger Schritt zur bürgerlichen Oper.
Dauerbrenner auf den Spielplänen
„Orfeo ed Euridice“ hat schon immer ein breiteres Publikum als die Freunde Alter Musik begeistert und klingt nach wie vor modern. Kaum ein Spielplan kommt ohne Glucks Dreiakter aus. Bis vor kurzem war an der Staatsoper die Inszenierung von Jürgen Flimm zu erleben, der für die Szenerie mit dem Büro des Stararchitekten Frank Gehry zusammenarbeitete.
An der Komischen Oper schrieb man 1987 mit der Produktion von Harry Kupfer, mit Jochen Kowalski, Dagmar Schellenberger und Christiane Oelze, Theatergeschichte, damals wie an der Behrenstraße üblich noch in deutscher Sprache. So liegt die Messlatte für eine Neuinszenierung in Berlin recht hoch. Damiano Michieletto, der Regisseur aus Venedig, an der Komischen Oper zuvor mit Massenets Märchenoper „Cendrillon“ erfolgreich, enttäuscht auch nun die Erwartungen nicht.
Es gibt verschiedene Fassungen der Oper. Manche Bearbeitung stammt noch von Gluck selbst. In der Komischen Oper sehen und hören wir die Wiener Urfassung in italienischer Sprache. Gluck und Calzabigi orientierten sich an Ovids Metamorphosen. Allerdings dem Zeitgeschmack entsprechend mit zugefügtem Happy End. Michieletto legt das Drama als moderne Liebesgeschichte an.
Modernes Ehedrama
Szenen einer Ehe während der Ouvertüre. Wir blicken in einen klinisch weißen Raum. Orfeo, Typ Latin Lover im hellgrauen Anzug und weißem Hemd. Euridice, die laut Partitur eigentlich erst im zweiten Akt in Erscheinung tritt, im geblümten Kleid. Beide sitzen an einem langen Tisch, haben sich offensichtlich nichts mehr zu sagen. Neben Orfeo steht schon der gepackte Koffer. Als er sie verlässt, zückt Euridice ein Messer. In Selbsttötungsabsicht?
Szenenwechsel: Ärztinnen, Pflegepersonal, Patientinnen und Besucher auf den Gängen einer Klinik. Unter ihnen ein verzweifelter Orfeo. Die Sorge um die Gattin hat die Liebe neu entfacht. Als er Euridice leblos im Krankenbett erblickt, will er sich umbringen. Einem Polizisten entreißt er die Pistole. Doch Amore, mit Frack, Zylinder und Stock wie ein Conferencier gekleidet, fällt Orfeo in den Arm und bewegt ihn dazu, die Geliebte aus dem Reich der Toten zurückzuholen.
Es widerstrebt einem ein wenig, während der permanenten Debatte um kritische Infrastruktur auch auf der Opernbühne Krankenhaus-Szenen zu sehen. Aber das Konzept erweist sich als recht klug. Kernstück der Bühne von Paolo Fantin, meisterlich beleuchtet von Alessandro Carlotti, ist ein großer quaderhafter Block, der sich hebt und senkt, dabei Erkenntnisse verbirgt oder freigibt.
Sängerische und darstellerische Glanzleistungen
So wird Orfeos Auseinandersetzung mit den Bewohnern der Unterwelt zum großen Abenteuer. Ebenso die Rückkehr mit Euridice, die an der Liebe Orfeos erneut zweifelt, weil er sie, so das göttliche Gebot, nicht anschauen darf. Als er es doch tut, sind wir im nächsten Moment erneut im Krankenhaus, und Orfeo singt in tiefer Trauer sein ergreifendes „Che faró senza Euridice“.
Ursprünglich für einen Alt-Kastraten komponiert, wurde Orfeo gern mit Mezzosopran besetzt, bevor sich der Countertenor durchsetzte. Carlo Vistoli erweist sich als Offenbarung. Kraftvoll und lyrisch zugleich meistert er die Aufgabe. Sängerisch wie darstellerisch demonstriert der italienische Stargast, wie man auch als Kontratenor sehr maskulin rüberkommt. Sein Äußeres mit der langen schwarzen Mähne und dem Dreitagebart hilft ihm dabei.
Nadja Mchantaf, die Euridice, ist Ensemblemitglied. Die Sopranistin mit Tanzausbildung überzeugte unter anderem als Jenny Hill in „Mahagonny“. Man hört, dass sie einer anderen sängerischen Tradition als Vistoli entstammt, was ihre Leistung nicht schmälert. Grandios ist sie szenisch, wenn sie gemeinsam mit den drei Tänzerinnen Alessandra Bizzari, Ana Dordevic und Claudia Greco Euridices Wandeln zwischen Leben und Tod verkörpert.
Als Amore, der in dieser Oper kein Deus ex machina ist, sondern das Schicksal der Liebenden bis zum glücklichen Ende, dem Triumph der Liebe, steuert, sorgt Josefine Mindus aus dem Opernstudie des Hauses für mächtig Wirbel. Anstelle des Chors der Komischen Oper zeigen sich die gastierenden Sängerinnen und Sänger vom Vocalconsort Berlin in großer Form.
Barockes Donnerwetter
Am Pult gibt David Bates, der englische Barockspezialist, sein Deutschland-Debüt. Er spielt sich in manchen Passagen mit dem Orchester ein bisschen zu sehr in den Vordergrund. Historische Instrumentarium wie Zink und Barocktrompete schafft den Anschein von Authentizität, schmeichelt aber nicht immer im Ohr, zumal noch Donnerblech und Windmaschine beim Weg in die Unterwelt für wahrhaft höllischen Krawall aus dem Graben sorgen. Nicht vergessen: So barock ist Gluck gar nicht.
Eine der eindringlichsten Szenen ist gegen Ende eine fulminante Choreografie (Thomas Wilhelm). Asche regnet aus Euridices Urne, ein heftiger Wasserguss von oben erweckt die Tote ein weiteres Mal. So eine drastische und nicht sonderlich ästhetische Darstellung könnte Widerspruch auslösen. Doch bei der Premiere gibt es einhelligen Jubel für alle, auch für die Regie.
Bleibt nur eine Frage, die ich mir eigentlich nach jedem Happy End stelle: Wie lange wird die Liebe zwischen Orfeus und Eurydike diesmal währen?
Am 6., 12. und 25. Februar, sowie am 6. März, 3. und 7. Juli 2022. Hier geht es zu den Karten.
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
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2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
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Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
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1. Vaganten Nathan abgespeckt und aufgepeppt
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