HEUTE: 1. Hilfe in höchster Not ‑ Die Familie Mann und die Tschechen, Buchtipp / 2. Abschied vom Amt – Alice Ströver macht Feierabend
„Stellen Sie sich vor, ich habe einen Pass! Und alles ging glatt. Muss keine anderen Dokumente mehr vorweisen, um Visa zu kriegen. Bin nun tschechischer Staatsbürger“, ruft im Spätsommer 1936 strahlend vor Glück Thomas Mann zur versammelten Presse. ‑ Er sei ja nun „nach Masaryk und Benes der wohl berühmteste Tschechoslowake und vorläufig einzige Nobelpreisträger dieses Landes“, schreibt der „Prager Montag“. Und zitiert ein staatsmännisches Statement des neuen Landsmanns, der aus Deutschland ausgebürgert wurde, weil der „die Wahrheit“ vertreten habe: „Ich bin stolz, diesem Staatswesen anzugehören, dessen politische und geistige Haltung meinen eigenen Anschauungen entspricht. Es ist nur natürlich, dass ich mich als Bürger eines Staates wohlfühle, dessen Repräsentanten Männer von europäischer Geltung sind; Gelehrte in einem modernen und umfassenden Sinn.“
Auch wolle er ein Beispiel geben, dass man ein guter Deutscher und gleichzeitig ein guter Angehöriger der tschechoslowakischen Republik sein könne ‑ was an die Adresse der sudetendeutschen Minderheit ging.
Denn da sah Thomas Mann sich womöglich – es war ein Irrtum ‑ in einer neuen Rolle, nämlich als Förderer einer Annäherung der Deutschen und Tschechen über Kultur, bemerkt Peter Lange in seiner an bislang eher unbekannten Details reichen Schilderung des in vielen Jahren gewachsenen, zuweilen ziemlich engen Verhältnisses der gesamten, weit verzweigten Familie Mann zu den Tschechen. Den Titel dieser spannenden, höchst aufschlussreichen, auch herzbewegenden Monografie gibt ein Spruch vom großen Zauberer: „Prag empfing uns als Verwandte“.
Eine Verwandtschaft, die sich beileibe nicht nur aufs metaphorisch-geistige bezieht, sondern auch aufs tatsächlich-familiäre, das allerdings heutzutage öffentlich kaum noch präsent ist.
Heinrich und Maria, Thomas und die Intellektuellen
Da ist Thomas‘ älterer Bruder Heinrich, der 1912 auf einem Ball in Berlin die Prager Tänzerin Maria Kanova kennenlernte, die er alsbald heiratete – Tochter Leonie wurde geboren. Die Ehe dauerte nur kurz. Doch die allgemein familiären Beziehungen hielten wie die dauerhaft materiellen Unterstützungen der Prager durch „ihre Deutschen“; vornehmlich freilich durch Tomas Mann. Und das bis weit in die Nachkriegszeit hinein.
Thomas war seit 1922 mehrfach eingeladen zu Vortragsreisen; man lag ihm hingerissen zu Füßen. Er pflegte also schon lange vor 1933 gute Kontakte zur Regierungsspitze, zu prominent gesellschaftlichen, intellektuellen Kreisen und besuchte, wie seine Kinder auch, ziemlich regelmäßig die tschechische Sippschaft. Man traf sich daheim, noch lieber, in der luxuriösen Absteige des weltberühmten Star-Schreibers, im Prager Hotel Esplanade. Auch Golo besuchte immer wieder das Böhmische für seine Wallenstein-Forschung.
Katia Manns Bruder Klaus Pringsheim heiratete, wie sein Schwager Heinrich, ebenfalls eine Tschechin. Klara Koszler überlebte die Besatzungszeit freilich unter etwas glücklicheren Umständen als Heinrichs Ex Maria und dessen Tochter Leonie, die noch zuletzt ins KZ deportiert wurde.
Das Private im Gesellschaftlich-Politischen
Der Journalist Peter Lange, Korrespondent für die ARD und Deutschlandradio in Prag, zeichnet die Lebenswege der Manns mit ihren erstaunlich vielfältigen, teils immerhin höchst intimen Bindungen an die damalige Tschechoslowakei akribisch nach. Deren zwangsläufig abenteuerliche Lebenswege zwischen der Schweiz und halb Europa und schließlich den USA sind quasi der Rahmen dieser Familienerzählung und zugleich Geschichtsschreibung, die obendrein noch die politisch halb links bis weit links positionierten Lager der Exilanten ‑ dazwischen die Manns ‑ sowie den Exil-Literaturbetrieb beleuchtet; Stichwort „Freiheitsbibliothek“.
Sonderlich eingebunden in diese Monografie ist – dank umfangreicher Forschung des Autors (sowie befreundeter tschechischer Mitarbeiter) – die genaue Darstellung der durchweg materiell prekären, im Krieg dann bis an den Rand der Verelendung getriebenen Lebensumstände des böhmischen Teils vom Familienclan, der schwer unter politischer wie „rassischer“ Verfolgung zu leiden hatte. Die lebendige, mit großer Rührung, mit Bitterkeit und Schmerz zu lesende Darstellung umspannt die Zeitläufte von nach 1900 bis in die Frühzeit von BRD und DDR. ‑ Was für ein Epochen-Panorama aus Privatem und Politischen, aus Glück und Unglück!
Das 350-Seiten-Werk nebst Anhang und opulentem Quellenverzeichnis ist der Übersicht halber gegliedert in für jedes Familienmitglied einzelne Erzählungen; wobei ‑ kleiner Einwand ‑ eine schematische Familienaufstellung, also eine Art Stammbaum, hilfreich für die wünschenswerte Nachauflage wäre.
Tausende Kronen für Münchner Besitztümer
Es liegt in der Natur der Sache, dass das nicht unkomplizierte Prozedere der sowohl Reisefreiheit als auch politischen Schutz schaffenden Ehren-Einbürgerung einen Schwerpunkt der Darstellung bildet. Denn so glatt, wie Thomas vor Publikum jubelte, ging das alles nicht. Gerade hier treten die historischen Umstände, das Diplomatische und Konspirative, drastisch hervor.
Zunächst zögerte T.M. lange, um es nicht gänzlich zu verderben mit der NS-Regierung; aber auch, um die immer schwieriger werdende Betreuung seines Werks durch seinen Verlag (S. Fischer) nicht gänzlich zu verlieren und damit die für die gesamte, weit verzweigte Großfamilie existentiellen Einnahmen.
Übrigens, die Prager Regierung hatte über ihr Münchner Generalkonsulat vorausschauend bereits mehr als 4000 Reichsmark gezahlt (38.000 Kronen), um wenigstens einen Teil der Habe von T.M. vor Nazi-Zugriffen zu schützen.
Schließlich kam Thomas Manns Entschluss für die tschechische Einbürgerung noch rechtzeitig vor der offiziellen Ausbürgerung durch Berlin. Prag machte selbstverständlich keinerlei Schwierigkeiten. Doch das Gesetz verlangte die Vergabe eines so genannten Heimatrechts durch eine tschechische Kommune als Voraussetzung für Einbürgerungen.
Ein kleiner Fabrikant als großer Retter in der Not
An diesem neuralgischen Punkt tritt, so T.M., der „seelengute, gebildete, mitfühlende Dr. Rudolf Fleischmann“ auf, der im Provinzstädtchen Proszetsch in seiner bescheidenen Fabrik höchst gewinnbringend Taschentücher produziert und ein glühender Verehrer Manns ist. Ein mutiger, selbstloser Mensch, der sich mit größtem Aufwand für die hochmögende Familie einsetzt und im Rathaus zu Proszetsch deren Heimatrecht erstreitet: Er gewann mit 12 von 18 Stimmen – die Furcht vor dem gefährlichen Nachbarn Deutschland sorgte für geteilte Meinungen und mehr noch, durchaus verständlich, für beträchtlichen Widerstand.
So setzte der tüchtige, tapfere, großherzige Herr nach komplizierten Vorläufen und bürokratischen Interventionen besagtes Heimatrecht für das Ehepaar Thomas und Katia mit den Kindern Elisabeth, Michael und Golo durch ‑ in einer Extra-Aktion hatte er bereits zuvor für Sohn Klaus Papiere beschafft. Fleischmann überreichte die lebenswichtigen Dokumente – eine Szene, so Tommy, „mit historischer Feierlichkeit“ – an einem Vormittag 11 Uhr Anfang August in der Mannschen Villa im gefährdeten, damals Schweizer Exil. Fleischmann kam extra mit dem Flugzeug nach Zürich, und der Hausherr erinnerte bei dieser Gelegenheit noch einmal dankbar an seine „schönen Stunden im Hradschin“ mit Masaryk und später Benes.
T.M. spendierte der kleinen böhmischen Landgemeinde einen beträchtlichen Geldbetrag, für den man Apfelbäume setzte, deren spätere Erträge Bedürftigen zugutekommen sollten. Fleischmann, dem Literaturenthusiasten, dem sturen Streiter für Gerechtigkeit, setzt Peter Lange feinfühlig ein zutiefst berührendes Denkmal. Und entreißt so diesen lebensfrohen, prominent vernetzten, geradezu verrückt umtriebigen, letztlich doch stillen Helden dem Vergessen. Bei aller mit Empathie betrieben Sachlichkeit der Darstellung steckt in der Fleischmann-Geschichte ein ganzer kleiner, großartiger Roman eines Idealisten mit heiß liebendem Herzen, der anderseits Realist ist ‑ mit viel Fantasie für das Praktische, Vernünftige, das einfach Menschliche. Man sollte die Manns nun nicht mehr ohne den Juden Rudolf Fleischmann denken. Auch nicht ohne die Tschechen.
Peter Lange „Prag empfing uns als Verwandte. Die Familie Mann und die Tschechen“, Vitalis-Verlag, Prag 2021, 383 Seiten, zahlr. Abb., 29,90 Euro
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Alice Ströver galt und gilt bis zum heutigen Tag als Aktenfresserin. Bitte kein Missverständnis: Nicht als Bürokratin. Sondern als beinahe allumfassende Kennerin der tückischen Details vom Betrieb, die den großspurigen Gorillas üblicherweise nicht wirklich liegen. Praxis ist schließlich ein mühseliges Geschäft. Ist Schwerarbeit.
Und natürlich auch das: Alice Ströver ist ein umtriebiger Schöngeist. Begeistert sich fürs Poetische, Künstlerische. Sie hat einfach Lust auf Kunst, von der sie – als Politikerin keine Üblichkeit – viel versteht. Diese Leidenschaft hält sie wiederum nicht davon ab, nüchtern den von ihr als „meist konzeptlos“ gescholtenen Kunstbetrieb zu hinterfragen. Bezüglich des (staatlichen) Theaters sagte sie, schon vor Urzeiten: „Theater werden ja nicht bezuschusst, damit sich die Regisseure ausagieren, sondern um das Publikum zu überzeugen.“ Ein plebejischer Ansatz. Klingt mittlerweile schon ketzerisch. Macht allzeit viel Feind. Aber auch Freund.
Alice, kurzzeitig hohe Staatsbeamtin, langzeitig Parlamentarierin, Ausschussvorsitzende und Kulturpolitische Sprecherin ihrer Partei wird, das darf man getrost sagen, wohl lebenslang Kulturpolitikerin bleiben und einfühlsam kritische Zuschauerin dazu. Ihr wurde von der „taz“, als sie 2011 das Parlament verließ, um schließlich zur Freien Volksbühne zu kommen, ein seinerzeit geflügeltes Ströver-Zitat nachgerufen; „Also zu dem Thema hab ich mich jetzt selbst auf die Rednerliste gesetzt. Da hab ich noch einige Fragen, die vom Regierenden bisher nicht beantwortet sind…“ ‑ So war das damals im Parlament. „Das gehörte zum Ströver-Ritual in jeder Ausschuss-Sitzung.“
Wer sonst hatte derartiges getan? Alleinstellungsmerkmal! Wohl bis heute. Unvergesslich.
Ingeniöse Kulturvolk-Aufmischerin
Dann hat sie neun Jahre dem Volksbühnen-Verein gedient. Hat diese Firma mit legendärer Tradition der damals drohenden Bedeutungslosigkeit entrissen und mit originellen Neuerungen sowie glücklicherweise bewundernswertem Erfolg in die Gegenwart geschleudert. Dabei erschloss sie ganz neue Publikumsfelder, führte das Digitale ein, kreierte das Logo „kulturvolk“ sowie eine eigene TV-Talkshow mit Künstlern und Kritikern. Kraftakte!
Unsereins durfte da nach Kräften mit Urteil, Information und Unterhaltung mittun als wöchentlicher Kulturvolk-Blogger ‑ nun schon dreieinhalb Hundert Mal. Alice hatte mir anno 2012 – Überraschung! – dieses herrliche freie Forum eröffnet. ‑ Ganz offen den heiligen Ernst in Fragen der Kunst (auch der Kulturpolitik) mit dem Spaß, dem Unterhaltsamen, Frechen, Verrückten, Unerhörten zusammen zu bringen, das ist es, was uns verbindet. Und das bleibt.
Alice Ströver, Kulturpolitikerin, ist seit 2012 Geschäftsführerin der Besucherorganisation Kulturvolk /Freie Volksbühne Berlin e.V. Am 11. Mai geht sie in den Ruhestand. Ihre Nachfolgerin ist die Theater- und Kommunikationswissenschaftlerin Katrin Schindler.
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