HEUTE: 1. „Willkommen bei den Hartmanns“ – Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater / 2. Letzte Heimat Schiller Theater: Gedenken an Bernhard Minetti zum 20. Todestag
Ach, du schönes Schiller Theater! Was für eine Hoheit, was für eine Eleganz, Helle, Leichtigkeit! Ein vornehmer gesellschaftlicher Repräsentationsbau aus vergangenen Zeiten, als das Theater noch felsenfest im Zentrum öffentlichen Lebens stand. Längst ist das nicht mehr so. Auch, weil sich Formen und Spielweisen gründlich geändert haben. Sie passen nun meist nicht mehr in solche großen, großartigen Hüllen.
Als die Staatsoper das kostbar renovierte Haus der abgewickelten Staatlichen Schauspielbühnen übernahm, waren die ersten sechs Reihen A bis F verschwunden – für den Orchestergraben. Jetzt sitzt man in der neunten Reihe eigentlich in der 15; das ist etwa in der Mitte des Saals und war am Kudamm schon ganz hinten. Nun kommen noch einige Reihen hinzu. Eine Herausforderung für die sprachliche Durchschlagskraft der Schauspieler, die es an den einstigen Kudamm-Bühnen mit Kammerspielformaten zu tun hatten. Sollte man deshalb besser beständig Mikroports einsetzen?
Wie dem auch sei, den alten Theatergänger stimmt es doch stets frohgemut, am verwahrlosten Ernst-Reuter-Platz vorbei (ewige Baustelle) wieder in die Bismarckstraße hin zum Schiller Theater atemlos zu eilen (weil: auf den letzten Pfiff und die vielen U-Bahntreppen).
In den beiden Parkettfoyers die bekannten Kudamm-Stühle an Marmortischen. Es gibt noch immer die Alt-Westberlin-typische Bowle. Und neuerdings prima Bouletten (zwei Euro); die gewohnt preiswerten Würstchen aber auch. Doch das herrlich weite hohe Rangfoyer mit der faszinierenden Glaswand gähnt in Leere – noch stets den Rang zu füllen bleibt schwierig.
Immerhin, zum Start in die Interim-Spielzeiten der „Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater“ war die Hütte rappelvoll mit Theaterprominenz aller Arten. Und die Begeisterung riesig für John von Düffels Bühnenadaption des Simon-Verhoeven-Films „Willkommen bei den Hartmanns“. Die Komödie kam 2016 als Ruf der Stunde in die Kinos, erreichte allein in Deutschland mehr als vier Millionen Zuschauer. Sensationell.
Schon ein Jahr später brachte die Wiener Burg in ihrer Kammerspiel-Dependance Akademietheater Verhoevens die Massen so begeisternde Refugee-Welcome-Story mit enormem technischem Aufwand in der vor Fantasie schäumenden Regie Peter Wittenbergs heraus. Ein Glück (oder auch: Pech) für die Berliner, dass ihnen der Vergleich fehlt. Was da im Film wie auch in Wien wie verrückt tobt, nämlich die Wirren, die ausbrechen, wenn eine gutbürgerliche Wohlstandsfamilie Knall auf Fall einen afrikanischen Flüchtling in ihre Villa aufnimmt, das alles läuft unter Martin Woelffers Regie mit Düffels nett kalauerndem Text („Es gibt auch Schwarze unter den Schafen“) ausgesprochen artig ab; übrigens, auch die Wiener Textfassung war sehr viel ätzender.
Am Bismarck-Boulevard also keine kühnen Hiebe ins Groteske, Aberwitzige. Und keine frechen Ausschläge ins Klamottige. Dabei steckt doch genau das in Verhoevens Filmerfolg. Und noch dazu die wilde Mischung brisanter Situationen höchst gegensätzlicher Art, die da in hoher Geschwindigkeit wie im Artisten-Zirkus durch die Luft gewirbelt werden. Es geht da um Nazisgedöns, Asylverfahren, IS-Albträume, Terrorabwehr, Zivilcourage, Herzschmerz, Ehekrisen, Emanzipationsprobleme, Pubertätsknatsch, Egomanien, Einsamkeit, Gottlosigkeit, Gläubigkeit, Wohlstandsverhärtung, Drogen, Sex, Alkohol, Einsamkeits- und Verlassenheitselend, Fremdenangst und Flüchtlings-Traumata.
Verhoevens Kunst war, das alles zum Lachen und zum Heulen so aufregend wie wagemutig unter einen fantastischen Hut gebracht zu haben – die dritte und die erste Welt, das Helfersyndrom, das Arschlochsyndrom.
Regisseur Woelffer fand – trotz soliden Castings – keinen solchen Hut. Streckenweise erzählte er die Geschichte nüchtern wie ein Lehrstück für Integration. Gerade im ersten Teil war es nervend, wie sich die wohlfeil westlichen Wohlstandsübersättigungsprobleme bieder spreizten gegenüber den (drohenden) Problemen mit dem „Fremden“. Nach der Pause zog die Chose etwas an. Nicht etwa, weil der hinreißend sympathische Nigerianer, dessen Familie von Boko Haram ermordet wurde, etwa Ärger machte (der Schauspieler Quatis Tarkington als geradezu bezaubender Sympathieträger), sondern, weil die „typisch Zehlendorfer“ Familie so enthemmt wie verzweifelt ihre eigenen Wunden leckt (Gesine Cukrowski, Rufus Beck, Marion Kracht, Mike Adler, Jonathan Beck, Pia-Micaela Barucki).
Die auffällig angestrengt routiniert agierenden Kollegen dürfen dem gewieften Bühnenbildner Stephan Fernau dankbar sein für die der guten Akustik dienlichen hohen Wand, die er als Fassade einer prächtigen Villa dicht hinters Proszenium setzte als Begrenzung der Spielfläche auf die Vorbühne. Die Überraschung: Sich öffnende Fassadenteile erweitern überraschend das Spielfeld. Prima Idee!
Noch ein Problem zum Schluss: Knapp zwei Jahre nach der Premiere des Films sind die Zeiten deutlich härter geworden. Schaffen wir das überhaupt noch, lautet heutzutage die Frage. Und die AfD zieht gleich mit der SPD. Woelffers herzig hübsche, ach so gut gemeinte Inszenierung und auch Düffels Script ignorieren diese Härte. Trotzdem: Zum Schluss reagierte das Publikum begeistert. Was optimistisch stimmt.
Der deutsche Schauspieler sei Ritter, Tod und Teufel, predigte einst Jürgen Fehling, der Regiestar des Preußischen Staatstheaters Berlin. Und weiter: „Der deutsche Schauspieler fängt mit Ich an.“ Dazu passt eine Bemerkung von Bernhard Minetti, er müsse auf der Bühne tätig sein, um sich lebendig zu fühlen.
Minetti, der am 12. Oktober vor zwanzig Jahren verstarb, befand sich seit seinem 22. Lebensjahr an jenem letztlich leeren Ort, der mit lauter „Ichs“ zu füllen ist: also mit der Kunst der Schauspieler. Dafür traktierte beispielsweise George Tabori seine Akteure mit psychotherapeutischen (Gruppen-)Übungen, trainierte Konstantin Stanislawski das Vergegenwärtigen von Gefühlen einer Figur, forderte Bertolt Brecht das distanzierte Zitieren und Jerzy Grotowski die pure Körpersprache; heutzutage allgegenwärtig durch die (modische) Dominanz des sportiv Performativen.
Minetti, zwischen 1925 und 1927 Eleve an Leopold Jessners Staatlichen Berliner Schauspielschule, hatte in seinem langen Lauf der Praxis bis zuletzt (er starb mit 93 Jahren) mit wohl allen erdenklichen Formen jenes Ego-Trainings zu tun; schon deshalb, weil er allem gegenüber stets offen blieb. Er überstand sie alle heilen Herzens, weil er, so seine Erklärung, aus dem Zentrum des Körpers spiele. Nicht aus dem Kopf, nicht aus dem Bauch, sondern „aus dem Herzen; aus einem unbeschädigten Gefühl heraus, das ich schütze wie eine Mutter ihr Kind in allen Unbilden und Fürchterlichkeiten des Lebens“. – Wo heller Geist herrsche, dürfe finstre Macht nicht sein. Also „das Positive suchen“; also Absonderung, innerlich, und Hinwendung zum Privaten, zur Literatur, zur Malerei.
Denn: Von 1930 bis 1945 war Bernhard Minetti erst unter Jessner, dann unter Gustaf Gründgens an Görings Preußischem Staatstheater engagiert. „Wir lebten alle mit einem Mantel um uns herum, einem Mantel von Verdrängen, von Nicht-Neugier, Nicht-den-Dingen-nachforschen. Ich nannte das Selbstschutz; habe weggesehen aus Not. Es hätte mich unfähig gemacht, künstlerisch impotent.“
Anders gesagt, hätte er genau hingeschaut, gar eingegriffen und sich nicht innerlich abgesondert, er hätte womöglich mit dem Spielen aufhören müssen, hätte, wie sein kommunsitischer Kollege Hans Otto, den Kopf verloren. Noch schlimmer aber wäre es für Minetti gewesen, er hätte lebendigen Leibes das die Kunst rettende „unbeschädigte Gefühl“ verloren, neben dem Talent die Voraussetzung seines Tätigseins.
Seine Kunst, auf einzigartige Weise Ritter, Tod und Teufel zu sein, wuchs und wuchs – das ist zu respektieren – aus seiner Autonomie ins geradezu gigantische. Der Preis dafür: eine beschädigte Integrität. „Dass ich zur Gruppe der Opportunisten gehört habe“, äußerte er rückblickend über seine Zeit im Nazi-Berlin, „mit diesem Vorwurf muss ich leben.“
In seinen Memoiren erklärte Minetti, was nicht als Rechtfertigung missverstanden werden sollte, dass gerade in jener Zeit an besagter, ‑ nicht zuletzt Dank Göring – erstklassiger Bühne „erlebbar war, was ich die Autonomie der Kunst nenne. Die Dinge waren durch ihre Eigenheit oppositionell. Und weil ihre Darstellung restlos ausgefüllt war, verstand sie das Publikum.“ Da ist es wieder, besagtes Ausfüllen, das Fehling meinte, und das – so Minetti – ohne Absonderung alles Fürchterlichen unmöglich sei.
Man muss das verstehen wollen. Man muss auch, wie Minetti, diejenigen akzeptieren, die das nicht verstehen können und deshalb ihren Beruf, ihre Kunst, ihr Leben hingaben. Auch wir waren auf der Bühne Ritter, Tod und Teufel. Doch im Leben spielten sie, à la bonne heure, ersteren. Sie waren auf andere, auf ihre Art Herzenskinder, retteten sich auf die andere Weise, es war die jenseits von Kunst.
Nach 1945 war es um Bernhard Minetti vergleichsweise still, wohl auch, weil er es so wollte. Er spielte in den westdeutschen Provinzen zwischen seiner Geburtsstadt Kiel und Frankfurt/Main. Mitte der 1960er Jahre kehrte er zurück nach Berlin an die Staatlichen Schauspielbühnen, den Preußen-Erben. Im Schiller- und im Schlosspark-Theater wurde er gefeiert als idealer Interpret der Einsamen, Zynischen, Zaudernden und Verzweifelten aus dem Repertoire der dramatischen Moderne: Beckett, Genet, Dürrenmatt, Pinter. Mit Strindbergs „Totentanz“ 1971 im Schlosspark begann eine schier beispiellose Alterskarriere. Später spielte er Thomas Bernhard zum Ruhm mit dessen abgründigen Antihelden. Einem gab der Autor seinen Namen: „Minetti“.
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“, nicht die Mimen. Das meinte auch jener, seinem Dasein so dankbare Herr mit der schlohweißen Mähne und dem, Thomas Mann würde sagen, „seltsam aufgetanen Blick“. Er galt als einer der bedeutendsten Schauspieler Deutschlands. Seinen schon ins Sagenhafte gleitenden Ruhm – teuflisch-göttlicher Lohn lebenslanger Selbstbewahrung vor außerkünstlerischen Konfrontationen mit dem Bösenn in der Welt – diesen singulären Ruhm tat er kokett ab mit der Bemerkung „das finde ich überzogen“. Der Rest war Melancholie. „Meine Situation ist dieselbe wie bei einem Kind, das sich nur wundern kann.“ Zuletzt bekannte er, was bleibe, sei ein Grundgefühl frei zu sein. „Aber immer noch begierig. Und lustvoll ‑ gelegentlich.“
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