Mein Freund Mordecai aus Tel Aviv, ein jetzt schon sehr alter Herr, geboren in Chicago als Abkömmling polnischer Auswanderer und als junger Arzt einst nach Israel übergesiedelt, der hat es noch in der Schule gelernt: Jiddisch, die aus dem Mittelhochdeutschen entsprungene Sprache europäischer Juden. Bei seinen vielen Berlin-Besuchen (die vielen Museen, die Orchester, die drei Opern, Richard Wagner!), da kramte Herr Mordecai sein Jiddisch hervor. Und kam überraschend schnell auf Deutsch zurecht, auf seine ganz eigene Art jiddisch vermischt. Aber wer kann heutzutage noch Jiddisch, diesen für unser Ohr so wundersam anheimelnden Singsang?
Großmutter Lin kann; ihre Tochter Clara schon nicht mehr und gleich gar nicht Enkelin Rahel. Doch in Marianne Salzmanns ziemlich unkoscherem Familienstadel „Muttersprache Mameloschn“, uraufgeführt in der DT-Box, da geht es nicht um Sprachunterricht („Mameloschn“, auf Jiddisch „Muttersprache“). Vielmehr geht es in drastisch familiärem Nahkampf, vom Generationen-Trio geführt mit galligem Humor und spitzer Schlagfertigkeit, um Auseinandersetzungen mit jüdischer Identität. Um Strenggläubigkeit und Liberalität, Emanzipation, Bindung, Unterwerfung – nicht nur bezüglich kultureller Wurzeln oder Religiösem, sondern auch hinsichtlich Muttermacht, Familienbande. Die alte Lin (Gabriele Heinz), die nach dem Holocaust als gläubige Kommunistin ins vermeintliche Antifa-Paradies DDR ging, dort als Künstlerin mit Stasi-Nähe zur Vorzeige-Jüdin avancierte und den mehr oder weniger subtil herrschenden Antisemitismus verdrängte, sie schleudert ihrer von DDR-Demagogie traumatisierten Tochter Clara (Anita Vulescia) und der allem Ideologischen und Zwanghaften vehement sich verweigernden Enkelin Rahel (Natalia Belitski) ins Gesicht „Aber nach irgendwas muss man doch leben!!!“ Rahels Bruder wusste es; er pfiff auf die Mischpoke und zog ins Gelobte Land, in ein orthodoxes Dasein. Die vielversprechende, 1985 in Wolgograd geborene Jung-Autorin, die in Deutschland studierte und hier lebt, reißt in ihrem sarkastisch geschliffenen Konversationsstück übers „Wie-leben?“ als Jude (und für Rahel: als jüdische Lesbe) ein opulentes Kompendium komplexer Themen an; es reichte für mehrere Stücke. Regisseurin Brit Bartkowiak entfesselt feinfühlig eine packende Redeschlacht, in der sich Egomanie, Hass und Schuldgefühle, Schmerz, Liebe und Hingabe sowie die Sehnsüchte nach dem frischen Wind der Freiheit und der wohligen Wärme von Tradition, Einbindung, Geborgenheit wie meschugge mischen im signifikanten Bühnenbild von Nikolaus Frinke. Es gleicht einem sperrigen Möbellager, in dem man sich's gemütlich zu machen versucht. Vergeblich, es will nicht heimelig werden. Aber was ist Heimat? Und wo, bei wem ist sie?
Was wohl tun die Bücher im Bücherregal, fragt sich Herbert Fritsch seit er lesen kann. Ganz einfach, sie murmeln vor sich hin. Und weil einst sein alter Freund, der ziemlich abwegige Schweizer Aktionskünstler Dieter Roth (1930-1998), den Text „Murmel Murmel“ schrieb, der aus dem einen, endlos auf 176 Seiten wiederholten Wort „Murmel“ besteht, inszenierte Fritsch diese serielle Seltsamkeit in der Volksbühne Berlin. Die geballte Kritikerschaft kürte sie zur Sensation des Jahres. Fritsch gilt als momentan heißester Regisseur im Theaterkessel. Die gängigen Stichworte: Schalk von hohen Graden, hysterischer Theaterschreck, extrem komisch, durchtrieben dämlich, total genial. Stimmt: Die undramatisch-sinnarme Murmelei ist ein edel gestyltes, musikalisch fein gestütztes Entertainment für elf super gelenkige Showspieler, die zum enorm variantenreichen Gemurmel das jeweils passende, aus dem alltäglich absurden Leben gegriffene Geschichtchen solistisch, in Grüppchen oder chorisch vorführen. Ein Füllhorn von zauberhaften Einfällen kippt witzig über die bonbonbunte Bühne (mit der Fritsch noch zum „Bühnenbildner des Jahres“ avancierte). Fritsch fing an als Schauspieler. Weil man da spinnen kann, träumen, toben. Schauspielerei als Daseinszustand. So stieg er rasch auf – bis ins Welttheater Volksbühne zu Frank Castorfs Höchstglanz-Zeit. Der exzessive Turbo-Spieler befeuerte als komisch keuchender Slapstick-Tragiker den Castorf-Kult: „Clockwork Orange“, „Die Nibelungen“, „Der Idiot“, „Berlin Alexanderplatz“, „Schneekönigin“. Nach der Jahrtausendwende wieder weg aus Berlin. Und als Regisseur rein in die Provinz. „Bei mir dürfen Schauspieler all das machen, was ihnen schon auf der Schauspielschule verboten wurde.“ Das ist die Gegenposition zum so genannten authentischen Spielen. Grimassenschneiden, Körperverrenken, seltsam Sprechen sind naive Grundelemente von Theater – damit will er „die Leute entkrampfen, Gefühle lostreten“. So inszenierte er sich in die Premiumklasse: Als wuchtiger Einschläger beim Theatertreffen 2011 mit seinem Regie-Doppel „Nora“ aus Oberhausen (Ibsens Emanzipations-Klassiker als groteske Bloßstellung bloß peinlicher Macho-Ballermänner) sowie „Der Biberpelz“ aus Schwerin (die Hauptmann-Komödie als gallige Comic-Raserei). Und dann an der Volksbühne mit Slapstick-Tempo, Clowns-Humor und greller Verkleidung seine Inszenierung der Spießerklamotte „Die (s)panische Fliege“ vom wilhelminischen Autorenduos Arnold & Bach, der zurzeit lauteste Knaller im Hauptstadttheater. Auch beim diesjährigen Theatertreffen. Er ist der Super-Regisseur für Rampensäue. Dirigiert gigantische Übertreibungen, tollkühne Slapstickiaden, virtuose Sprechartistik und stellt so das Komische, Groteske und, ja doch, das Pathologisch-Zwanghafte so saftig wie kunstvoll aus. Das macht ihn zum König der Farce, wie besoffen wankend zwischen Ironie, Zynismus, Sentimentalität, zwischen Tiefsinn und Allotria.
Zum Schluss noch eine Hymne auf den tollen Film von Andreas Dresen über den großartigen Herrn Wichmann. Vor zehn Jahren war der Jura-Student Henryk Wichmann CDU-Jungpolitiker, konnte jedoch trotz tapferen Groß-Einsatzes den Wahlkreis Uckermark/Oberbarnim nicht gewinnen. Aus diesem Wie-verrückt-Wahlkampf im CDU-fernen Brandenburg machte damals der Regisseur Andreas Dresen einen herzbewegenden Dokfilm über einen von christlicher Nächstenliebe befeuerten Idealisten, für den Politik nichts Zynisches, nichts Verlogenes ist. Wichmann sozusagen – wie Parsifal – der reine Tor. Inzwischen sitzt er als Nachrücker in der dritten Reihe vom Potsdamer Landesparlament. Da meldet sich Dresen zurück und dreht den Film „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“. Eine so distanziert lakonische wie ungeniert liebevolle Hymne auf die stillen Helden des politischen Alltags. Herr Wichmann als Weltverbesserer. Für den Familienvater ist das (zunächst) der Dauerkampf gegen den Frust der Bürger in der Welt seines Wahlkreises. Unentwegt ist der Landtagsabgeordnete mit dem Kreuz an der Wand seiner Bürgerbüros im Skoda auf Achse im Clinch mit der oft bis ins Absurde getriebenen Bürokratie. Und mit Einwohnern, die immer bloß meckern „über bekloppte Politiker, die nichts tun“. Herr Wichmann tut und tut. Und ich frage mich, ob wir alle nicht selbst als notorische Meckerfritzen die Bekloppten sind. Doch da sehen wir den nie kleinkariert kümmerlichen Kümmerer schon wieder in den Höllen absurd lebensferner Verwaltungen, um zu löschen, was zu löschen geht. Solche Männer braucht das Land! Und solche Filme.
1. Berliner Ensemble Was Covid mit den Menschen machte
2. Gorki Das Monster in uns
3. Staatsoper Gedämpfte Freude am Belcanto
1. Deutsches Theater Disruption und Wohlfühlwimpel
2. Theater im Palais Terzett mit Paul Linke, Dorothy Parker und Marlene Dietrich
3. Schaubühne Dreier in der Schlacht auf der Couch
1. Kleines Theater Reisen ohne anzukommen
2. Berliner Ensemble Nicht nur Brecht
3. Theater am Frankfurter Tor Richtig getrickst
1. Volksbühne Schönes Happening in ruinösen Zeiten
2. Deutsches Theater Toxische Frauenmacht
3. Schlosspark Theater Krawall mit Blödköppen
1. Staatsballett Berlin Alles nur geträumt
2. Deutsches Theater Wunschträume und andere
3. Yorck-Kinos Der Alb-Traum vom Ruhm
1. Komische Oper Die Macht der Ideen
2. Wintergarten Berlins Gegenwart ist Gaga
3. Komödie Emotionen stören beim Ermitteln