HEUTE: 1. Deutsches Theater – „Weltall Erde Mensch“ / 2. Volksbühne – „Extinction“ / 3. Chamäleon Theater – Theaterpreis des Bundes
Noch eine Zeitenwende: Mit Beginn der 141. Spielzeit hat das DT erstmals in seiner großen Geschichte eine Frau an der Spitze: Iris Laufenberg, ein Kölsches Kind, sehr erfahren (Bonner Biennale, ein Jahrzehnt Chefin des Berliner Theatertreffens, dann Intendantin in Bern, zuletzt in Graz) und also bestens vernetzt im deutschen Sprachraum. Sie hat sich nicht bewerben müssen für diese berühmt erstklassige Position, sondern ist gefragt worden, erwählt von der zuständigen Politik.
Der kühne Griff nach Höchstem
Nun also Berlin, Berlin! Da ist klar: Für den Neustart im höchst subventionierten, teuersten Hauptstadt-Schauspiel muss Spektakuläres her. Da muss man klotzen mit einer Uraufführung. Und nach Höchstem, möglichst Allumfassenden greifen: Nach nichts weniger als „Weltall Erde Mensch“.
Alteingesessenen Ostberlinern mag dieser Titel der Spielzeiteröffnung bekannt klingen. Bezieht er sich doch auf ein die Geschichte und Zukunft der Menschheit erklärendes 500-Seiten-Buch, das in den 1960er und 70er Jahren zur DDR-Jugendweihe nebst den Blümchen überreicht wurde; quasi als revolutionäres Gegenstück (mit Widmung von Walter Ulbricht) zur Konfirmanden-Bibel.
Dem kurzen Blick zurück folgt der große in die Zukunft: Wir befinden uns „nach Beendigung aller kalten Kriege“ und dem „Sieg des Sozialismus“ in einer DT-Jugendweihfeier anno 3023 und sind erstaunt, dass es die in tausend Jahren noch immer gibt. Dafür sorgt Alexander Eisenach (Jahrgang 1984), Autor und Regisseur der Veranstaltung, die einlädt zur „lustvollen Expedition ins Ungewisse, um alternative Wirklichkeiten zu suchen und neue Paralleluniversen zu erforschen“. So die Ansage für seine Science-Fiction-Show.
Im Wirrwarr komischer Kosmonauten
Doch der vielversprechend geplante, dramatisch erhellende Kurzschluss von Gegenwart und Utopie verliert sich auf sinnlos kreiselnder Bühne in den Weiten des Weltalls. Da geistert ein zehnköpfiges Ensemble, verpackt in hässliche, poppig gemeinte Plastik-Klamotten, vier Stunden lang theatralisch unorganisiert von Paralleluniversum zu Paralleluniversum.
Um die Zeit totzuschlagen, liefern die komischen Kosmonauten ein Wirrwarr von zeitgeistig gefärbtem Geschwafel: Über Geschlechterkampf, Feminismus, Sexualität, Dildos, Besitzverhältnisse, Kapitalismus, Relativität und Wahrscheinlichkeit und noch dazu Unsterblichkeit. Uff! Wir verlieren die Übersicht; erkennen aber als gebildete Jugendweihlinge einige Quellen des im krampfenden Blödel-Modus rasend monologisch vorgetragenen Palavers: etwa den polnischen SF-Romancier Stanislaw Lem oder die amerikanische Feministin Joanna Russ („Planet der Frauen“).
Zwischendurch wird bisschen Musik gemacht, passieren spaßige Not-Operationen mit künstlichen Organen (Echtherz raus, Kunstherz rein) oder man setzt – Überraschung! – ein neues matriarchalisches „Narrativ“ in die Galaxis: Es beschreibt das Aus fürs maskulin heldische Jagen mit bösem Speer zugunsten feminin unheldischen Sammelns mit gutem Beutel. Aus dem wiederum kullern flauschig langhaarige Riesenapfelsinen für neckische Spielchen. Der Kommentar eines der Welttall-Ritter: „Aber auch das bedeutet nichts.“
Deutsches Theater, 7., 21., 22. und 30. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.
***
Schon draußen dröhnt’s von drinnen. Und vorsorglich werden Ohrstöpsel verteilt. Für die sensibleren Ohren. Denn was da an Techno-Schlägen erbarmungslos eindrischt auf Gehörgänge, Nervenstränge, Herzschlagfrequenzen ist infernalisch. Die zwei Jungs am DJ-Set auf der Bühne drehen volle Pulle auf im dämmrigen, von Nebelschwaden durchzogenen Saal. Man darf sich’s ungemütlich machen in den Sesseln oder einfach mal kurz raus an die frische Luft. Oder aber auf der Riesenbühne mitmachen und die Glieder verrenken. Zur Erfrischung gibt’s Freibier.
Die Stimmung ist gemischt: Genervte Irritation, abgeklärtes Grinsen, lustvolle Hingabe ans Brutale, Entfesselte, Wütende. Bis da eine trunkene Partymaus aus der Menge gefischt wird ans Telefon (alles wird gefilmt und auf Großleinwand übertragen): Es ist ein Anruf für sie, die Schauspielerin Rosa Lembeck. Aus Wolfsegg, einem Nest des Grauens in Österreich. Dem Ort und Hort des Bösen, in dem – Literaturkenner haben es zu wissen – Thomas Bernhards autobiographischer Roman „Die Auslöschung – ein Zerfall“ spielt (1988). Er liefert auch programmatisch den Titel „Extinction“ für die insgesamt dreiteilig fünfstündige Abendunterhaltung. Ein ätzender Text, der Gift und Galle schüttet übers notorisch nazibraune Österreich – und die notorisch verdorbene Menschheit gleicht mit.
Doch dazu vier Stunden später. Erstmal ist nach 45 Minuten Dancefloor Schluss mit Party. Und eine halbe Stunde Pause.
Szenenwechsel. Auf der Bühne hat Lisetta Buccellato inzwischen eine jugendstilige Salonkulisse gebaut (Anzeige: „Wien, Juni 1913“). Mit verglasten und verhangenen Türen, hinter denen hingebungsvoll Häppchen aus Stücken von Arthur Schnitzler gespielt werden: „Fräulein Else“, „Traumnovelle“, „Komödie der Verführung“. Jérémie Bernaert und Pierre Martin Oriol filmen alles hinter den Gardinen bravourös ab mit der Handkamera. In schwarz-weiß für besagte Videowand.
Palaver im Kerzenlicht, Koksen im Klo
Es soll das schwüle, psychologisch-erotisch Aufgeheizte, intellektuell Hochfahrende und weltschmerzlich Dekadente der Elite am Ende der k.u.k. Monarchie illustrieren. In diesen langen 150 Minuten des Hauptteils vom Triptychon beobachten wir immerzu wiederkehrende Momente, in denen die todesmüde Bourgeoisie exzessiv dem Untergang entgegen taumelt. Irgendwie die Fortsetzung der Techno-Party, nur ohne Techno und Bier, dafür mit Champagner, Klaviergeklimper, Kerzenlicht. Dazu aufgeheizt philosophisch-künstlerisches Palaver; Hypnose, natürlich Koks und Veronal sowie gewisse Macht- und Ohnmachtsspielchen und jede Menge Übergriffiges bis hin zum Inzest – ob im Klo oder auf dem Sofa. Und ein paar grässlich zugerichtete Leichen liegen auch herum. Eigentlich nix neues für heutzutage. Und ziemlich auf der Stelle tretend. Bisschen wie „Babylon Berlin“ in Endlosschleife. Nur, dass beim aufwändigen Schnitzler-Geschnipsel die Figuren mit ihren Geschichten bloß grob angerissen bleiben. Man muss sich halt auskennen mit den Österreichern und ihrer grandiosen Literatur...
Das überhaupt ist die Crux des 1987 geborenen, hoch ambitionierten germanophilen Regisseurs und Text-Adapters Julien Gosselin. Vor einem Jahr begann er in der Volksbühne mit seinem aufs Großformat setzenden Projekt deutschsprachige Literaturgeschichte; damals mit „Sturm und Drang“, einem Verschnitt von Goethe, Thomas Mann und Nietzsche. Unterm Strich aber entwickelt der Mann aus Frankreich, wie jetzt wieder, aus seinen durchaus gekonnt inszenierten Collagen kein wirklich spannendes „Stück“. Sondern bleibt stecken im theatralischen Statement mit apokalyptischem Grundrauschen: diesmal plakativ das ausgewalzte Thema „Agonie, Aufschrei, Vernichtung“. Allerdings mit eigenem, exzellenten deutsch-französischen Ensemble (Übertitelung deutsch, französisch und obendrein englisch).
Wütende Auslöschungsfantasien
Schließlich kommt zum späten Finale vor Mitternacht Thomas Bernhard mit seiner monologisch gefassten „Auslöschung“. Genauer gesagt: Auf einem Podest der ansonsten abgeräumten Bühne wippt 55 Minuten lang nervös kettenrauchend im eleganten Freischwinger die Schauspielerin Rosa Lembeck alias Franz-Josef Murau, der in Wolfsegg am Totenbett seiner durchtrieben bigotten und abgründig bornierten Eltern hockt und verzweifelt wutschnaubend von befreiender Auslöschung fantasiert. Eine phänomenale Gedächtnisleistung als grauenvoller Schlusspunkt der nihilistisch schillernden Show.
Ihre Kurzfassung käme in hundert Minuten zum selben einigermaßen platten Resultat: Es steht schlecht, sehr schlecht um die Menschheit.
Volksbühne, 21. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.
***
Der intime Showpalast in den Hackeschen Höfen, der intensiv den Neuen Zirkus pflegt, trägt diesmal Rabenschwarz. Die Guckkastenbühne von oben bis unten verhangen mit einer Vielzahl beweglicher Stoffbahnen in schwarz. Ideal für aus unterschiedlichsten Perspektiven plötzlich aufblitzende Lichtkegel, in denen eine hochleistungssportliche australische Compagnie (Koproduktion Chamäleon – Sidney Opera House) auf- und abstürzende Menschentürme bildet oder die Leiber kreuz und quer durch die Luft schießen lässt, als gäbe es keine Gravitation. Die Truppe heißt sinnigerweise Gravity & Other Myths. Ihre Spezialität: wagehalsig fliegendes Ballett in raffinierter Choreografie; atemberaubende Luftnummern. – Das gebannte Publikum vergisst vor Angst und Staunen zuweilen den Applaus in diesem wahrlich sensationellen Programm „ GOM: The Mirror“, das obendrein gefüllt ist mit kontrapunktisch gesetzter Musik, jazzigem Gesang und, natürlich, virtuosem, halsbrecherischem Bodenturnen – alles als theatralisch inszeniertes Gesamtkunstwerk. Eben Neuer Zirkus.
Es ist die Weiterentwicklung der Koproduktion Chamäleon – Sidney Opera House, die uns im vorigen Herbst schon aus dem Häuschen brachte. Deshalb der Verweis auf die Kritik meines Kollegen Uwe Sauerwein: Im Kulturvolk-Blog Nr. 409 vom 26. September 2022.
Speerspitze! Der Theaterpreis des Bundes 2023
Da wir seit längerem schon das beispielhaft innovative Treiben im Neuen Zirkus Chamäleon aufmerksam verfolgen, ist es auch für uns eine Genugtuung, dass dieses in jeder Hinsicht elegant betriebene Institut anspruchsvoller Unterhaltungskunst jetzt groß ausgezeichnet wurde: Mit dem Theaterpreis 2023 des Bundes! Große Ehre plus allerhand Preisgeld: 100.000 Euro!
Die Jury sieht das von Anke Politz (Intendantin) und Hendrik Frobel (Geschäftsführer) geleitete Haus als „Speerspitze einer dynamischen Entwicklung der Darstellenden Künste, das bestehende Grenzen zwischen Genres und Betriebsformen überwindet“. Es stehe für einen Zirkus, der sein künstlerisches Potenzial so entfalte, dass sich alle Fragen nach U- oder E-Kultur, nach Sub- und Hochkultur in körperlich spürbare ästhetische Energie sublimiere. Besonders die 18 Monate Corona-Schließzeit hätten das Haus trotz unplanbarer Bedingungen und keinerlei finanzieller Sicherheit zum Inkubator für künstlerisch Neues gemacht. – Bravo!
Chamäleon Theater, bis 24. Januar. Hier geht’s zu den Karten.
1. Staatsoper Verloren in der Liebeswelt
2. Neuköllner Oper Fit bis zum Exitus
3. RambaZamba Der diskrete Zwang der Bourgeoisie
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten