HEUTE: 1. Volksbühne – „Mein Gott, Herr Pfarrer!“ / 2. Chamäleon Theater „in_between“ / 3. Neuköllner Oper – „Bis keiner weint“
Berlin hats bekanntlich nicht so mit Religion. Umso mehr passt es zum gern lustvoll irritierenden, immer aber provozierenden Grundgestus der Volksbühne, ihre Gemeinde mit dem Ausruf „Mein Gott, Herr Pfarrer!“ zu locken. Die Novität von René Pollesch, dem Übervater des seit Jahrzehnten dahin mäandernden Diskurstheaters, der am Laptop als gewitzter Vielschreiber deutlich ruhmreicher ist denn als Chef auf der Brücke des schwer zu steuernden Großtheatertankers Volksbühne, Kapitän Pollesch macht jetzt also – Überraschung! – schnell mal 100 Minuten Christenlehre mit dem Herrn Pastor.
Gleich anfangs geht’s ernsthaft zur Sache mit zwei höchst unterhaltsamen Diskutanten: den Volksbühnenstars Benny Claessens und Sophie Rois, die mit diesem extraordinären Engagement nach sechs Jahren umjubelt ihr Zurück feiert im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, wo Mitte der 1990er Jahre ihre spektakuläre Karriere begann – unter Frank Castorf und auch unter René Pollesch.
Nun sitzen die beiden kummervoll an der Rampe, sinnieren über die Leiden Christi am Kreuz. Über seine Verlassenheit von Gottvater und den Jüngern sowie die eigene Einsamkeit, übers allgegenwärtige Unerlöstsein, über die Trost spendende Macht des Glaubens und zugleich die Qual des Zweifelns am Glauben – über die grundstürzende Hoffnungslosigkeit des Menschen überhaupt. „Wenn es sowas wie Erlösung gibt, warum sieht dann da draußen niemand erlöst aus“, fragt Sophie. Um ermunternd fortzufahren: „Ist aber ein interessanter Gedanke: Die Hoffnungslosigkeit löst sich nicht auf, sondern du akzeptierst sie als dein Leben. Und so wird sie etwas Lebendiges.“
Kein scharfes Diskurs-Ping-Pong, sondern Nebel
Ein spannender Start für vertiefende Dialoge. Doch alsbald vernebelt sich‘s. Denn Pollesch will natürlich kein scharfes Ping-Pong zwischen Christenlehre und Atheismus. Stramm steht er für flott wolkiges Diskurstheater. Da flattern die Gedankenfetzen wie verrückt durcheinander ohne Rücksicht auf Stringenz, Logik, Orientierung.
Um die verschnipselte Unübersichtlichkeit genüsslich zu steigern, wird das Gedankendurcheinander zusätzlich vermixt mit Momenten aus Ingmar Bergmans depressiv gottsucherischem Film „Licht im Winter“ von 1962. Wer kein Filmwissenschaftler ist, versteht Bahnhof. Bekommt jedoch ein Gefühl für postdramatisches Diskurstheater, das eben keine Handlung kennt und keine Geschichten liebt. Dafür aber das auf- und durcheinandergeblasen Wolkige. – Doch das dann einigermaßen kunstvoll, was hier wiederum vornehmlich an der starken Präsenz der beiden Protagonisten liegt.
Sophie im feuerroten Ballonkleid, Benny mit trauerrandschwarzem Schlips
Die Rois als eine Karin Bergman (Bergman!) im feuerroten, weit wie ein Ballon (Heißluft-Ballon?) sich bauschenden Kleid orchestriert wie immer virtuos ihr näselndes, schrill rotziges, gelegentlich auch sirenenhaft heulendes oder kreischendes Instrument aus schier unverwüstlichen Stimmbändern. Und stöckelt zwischen Nervosität und Hysterie flink und flott hin und her; selbstredend in orthopädisch bedenklich Hochhackigen. Gehört doch derartiges Schuhwerk zur DNA der Volksbühne.
An ihrer rauen Seite Claessens im Zustand wilder Verzweiflung oder depressiver Insichgekehrtheit als (bitte nachblättern in der Filmgeschichte) Bergmans Filmpastor Ericsson, protestantisch korrekt im weißen Hemd mit trauerrandschwarzem Schlips. Dazwischen hopsen Inga Busch und Christine Groß als bissig aufsässige Töchter. So macht am Küchentisch das vehement aufdrehende Quartett infernal, abgesehen von religiösen Randbemerkungen, komödiantisch locker auf Szenen einer zänkischen Familie.
Gelegentlich erinnern Bühnenarbeiter an Höheres und fahren eine Riesenwindmaschine mit schwarzen Flatterbändern auf. Das soll der Liebe Gott sein, von dem (im Bergman-Film) geträumt wurde. Als gespenstisch schwarze Spinne. Ach Gottchen.
Eine feste Burg und zugleich das Schönste neben dem Wirrwarr zwischen Kirchen- und Küchenstuhl: Der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin mit sanften Chorälen – aber auch mit Johnny Burnettes „You‘re Sixteen“ (ein Quantum Pop muss sein). Und zum überraschenden Schluss mit einem innigen „Kyrie Eleison“.
Volksbühne, 25. Juni. Wenige Karten direkt in der Volksbühne.
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Der Vorhang rauscht. Nein. In diesem pittoresken Etablissement aus der Kaiserzeit, da rattert es. Rattert wunderbar nostalgisch ein Tuch auseinander. Und ein Traumraum in melancholischem Halbdunkel hat seinen Auftritt bei leiser Musik: Da schwebt Federgetier, wuchert Geblümtes über eine malerische Riesentapete; von oben funkelt festlich ein Kristalllüster, am Boden prunkt ausladend ein Samtsitzmöbel. Wow, was für ein Gehäuse! Man staunt offenen Munds. Doch da kracht – oh Schreck! – im freien Fall und scheinbar aus dem Himmel ein Mensch. Und mit Knall hinein ins Sofa. Gottseidank, keine Knochenbrüche.
Der Knall macht Schluss mit märchenhaft schimmernder Salonstimmung. Der Knall ist Startschuss für ein irritierend entfesseltes Toben der Künstlerkompanie Circo Aereo hinauf und hinunter durch die Luft und von rechts nach links über den Boden und – Ratz! – hinaus durch die Tapetenwand.
Das ist Artistik der schönsten Art. Gerade diese Szene mit schier schwerelos wirbelnden, spielerisch ineinandergreifenden, auseinander stürzenden Körpern, raffiniert inszeniert im so zauberhaften Ambiente, bringt den Titel dieser immerzu überrumpelnd staunen, aber auch lachen machenden Show auf den schillernden Punkt: „in_between“. – Zwischen heftigem Hochleistungssport und sanfter Entrücktheit.
Regisseur Maksim Komaro sagt es so: „Wir erkunden ein Schweben zwischen Wachen und Träumen in einer Sammlung von Bildern wie aus einer anderen Welt.“ Höchst unterhaltsam. Höchst seltsam.
Ein Juwel der Branche
Für den kleinen romantischen Vergnügungspalast inmitten eines feinen Stücks Altberlin gilt: Die taffe Art-Direktorin schaut sich genau um auf dem Globus und engagiert nur Großes. Eben die siebenköpfige, international gemischte finnische Truppe von Circo Aereo. Sie zählt zu den besten der Branche; Auszeichnungen weltweit bekräftigen das. Sozusagen amtlich. Und so rufen denn auch wir ohne Amt mit Lust ins Land: „in_between“! Ihr betörendes, jegliche Schwerkraft fantasievoll außer Kraft setzendes Programm zählt – gerade auch durch seine ingeniöse Theatralik – zum Aufregendsten, was wir bislang sahen im Chamäleon, diesem weithin bekannten und bewunderten innovativen Zentrum der liebevollen Präsentation (und nicht zuletzt umsichtigen Förderung!) des Neuen Zirkus. Jubel, Jubel!
Chamäleon Varieté, Feinste Sommerabend-Unterhaltung. Noch bis zum 29. Juli. Hier geht’s zu den Karten.
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Ein Junior-Kreativteam hat sich den super Auftrag geschnappt: eine Neuverfilmung des Märchens „Schneewittchen“. Natürlich nicht so erzählt wie die alten weißen Brüder Grimm. Sondern ganz auf der Höhe unserer Zeit. Also ein inklusives Märchen, sprachsensibel, diskriminierungsfrei mit Figuren, mit denen jedermensch sich identifizieren kann. Und spannend soll es sein, ordentlich sexy und dicke Quote bringen, also Geld.
Die Probleme sind vorprogrammiert: Etwa Böses (die Stiefmutter) kämpft gegen Gutes (die Zwerge); oder das konventionell binäre Liebespaar Macho-Prinz und süße Beauty-Queen (Machtmissbrauch?) – wie kommt da der diverse jedermensch klar, ohne zu weinen? Muss er sich nicht abwenden mit schweren Unwohlgefühlen der Benachteiligung und Unsichtbarmachung?
Womit wir beim allgegenwärtigen Thema wären dieses „Meinungsmärchens mit Musik“ – ein intelligentes, schmissiges, vom 3. Studienjahr des Studiengangs Musik/Show der Berliner Universität der Künste exzellent gespieltes, getanztes, gesprochenes und gesungenes Musical.
Ist alles „woke“, gibt es kein Drama
Das Autoren-Duo Constanze Behrends & Franziska Kuropka bringt mit dem Showtitel „Bis keiner weint“ die komplexe Problemlage nicht nur im Kunstbetrieb auf den Punkt: Ist alles „woke“ durchgestylt, muss keiner weinen, gibt es keine Spannung mehr, keine packenden Konflikte, kein Drama. Höchstens einen freundlichen Minderheitenerfolg.
Das schwant auch dem Fünfer-Kreativteam, das beim Opening der Show sich auch als privat aktivistisch engagiert vorstellt im donnernden Sound der Political Correctness. – Wir listen auf: Zuerst die Produzentin, dann die feministisch-lesbische schwarze Romanautorin, der schwule Gagschreiber vom Privat-TV, der um einer Pointe willen gern auf Correctness pfeift, daneben die je nach Bedarf sich mal binär mal nonbinär lesende Influencerin (als Schneewittchen, Schneewitt oder Tittchen) und schließlich ein geschlechtlich fluider Serienstar als Märchenprinzchen oder kerliger Quotenbringer.
Und auf geht’s mit der bunten Truppe in die „Schneewittchen“-Proben, ins Durchexerzieren verschiedenartiger Erzählungen der Neid-Giftapfel-Lovestory. Was für eine Gelegenheit, gefühlt sämtliche Themen im Diskurs nicht allein der LGBTQIA+ Community anzuspielen. Ein heißes Hickhack um den rechten Pfad (das rechte Script) im gefährlichen Dschungel der Wokeness. Zusätzlich drohen kriegerische Konkurrenzen, lodert opportunistische Karrieregeilheit, donnern fundamentalistische Egos, explodieren Intrigen und Leidenschaften im Team.
Schwieriger Stoff, mutiger Versuch, Ovationen fürs Ensemble
Schließlich kommt ein korrekter „Schneewittchen“-Film zustande. Doch als wäre all das nicht längst abendfüllend, ploppt noch ein Me-Too-Kracher des Serienstars auf. Er streitet alles ab, sieht existenzvernichtende Denunziationen, der Shitstorm wütet. Falls er sich nicht entschuldigt, wird der Film gecancelt. Doch da stellt sich heraus: Der Fall ist keiner, sondern eine Eifersuchtsintrige. Trotzdem die verlogene Forderung nach Selbstkritik und Selbsterniedrigung – um des Films willen.
Wir sehen was passiert, kippt löblicher Sinn für Gerechtigkeit in Gerechtigkeitswahn. Wird die gute Idee der moralisch besser geregelten Welt durch Eifer überreguliert. Wird Me-Too oder Wokeness missbraucht.
Großartig, mutig und aller Ehren wert ist, diesen immer wieder neu auszufechtenden Konflikt zwischen Kunst und Korrektheit, idealem Gesellschaftskonstrukt und wirklichem Leben in zwei Stunden aufwändigstem Entertainment zu verhandeln. – Aber: Es ist alles zu viel auf einmal, zu viel in einer Tüte. So flott die Regie von Matthias Noack auch flutscht und so rockig auch Markus Syparek die Kompositionen von Lukas Nimscheck arrangiert und dirigiert, eine starke Dramaturgie hätte straffen, hätte unbedingt konzentrieren müssen.
Ein ehrenwerter Versuch; bravo! Und Ovationen für das formidable, in Technik und Ausdruck hoch gerüstete Ensemble, das sein Publikum vom Hocker reißt: Tara Friese, Laura Goblirsch, Nathan Johns, Fabio Kopf, Anna-Sophie Weidinger.
Neuköllner Oper, 17., 18., 23., 24. und 25. Juni. Weitere Termine im Juli. Hier geht’s zu den Karten.
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte