HEUTE: 1. Kammerspiele des Deutschen Theaters – „Am Strand der weiten Welt / 2. Deutsches Theater, Foyer-Bar – „Ein jegliches hat seine Zeit“ / 3. Hans-Otto-Theater Potsdam – „Das Fest“
Strand und Weite und Welt – ach, da rumoren Sehnsüchte: Mal raus aus dem Trott, was Neues erleben, neu verlieben, Abenteuer. Oder gleich ganz weg vom erschlafften Dasein im öden Nest. Also Abhauen! Ein Wunsch, den alle heimlich hegen in der Familie Holmes. Wer will schon Strandgut sein.
„Am Strand der weiten Welt“ ist denn auch das programmatisch gemeinte Motto, mit der Simon Stephens sein psychologisch wie sozial fein gezeichnetes Porträt einer Normalo-Sippe aus der englischen Mittelschicht anno 2006 überschrieb. Der Titel ist ein Zitat aus einem Sonett von John Keats, der da wehmütig singt, sowohl vom Wunschtraum kleiner Leute nach Ausbruch und Aufstieg als auch vom Elend eines Absturzes, vom einfach Liegenbleiben – eben als Strandgut.
Der Mikrokosmos einer „Familienbande“ – der klassische Stoff für Dramatiker. Und erst recht für einen wie Simon Stephens, den englischen Schreib-Star und Virtuosen des Well-Made-Plays, des Sezierens gesellschaftlicher wie auch zwischenmenschlicher Zwänge, des Aufblättern der Nöte und Qualen uneingelöster Lebensvorstellungen.
Allerwelts-Familienkladderadatsch
Also die Holmes-Family: Zunächst das Enddreißiger-Ehepaar Peter und Alice (Alexander Khuon, Kathleen Morgeneyer). Er selbstständiger Gebäuderestaurator, knuffig-mürrisch und in sich gekehrt; sie verhärmt und doch irgendwie zäh, früh Hausfrau mit aufgegebenem Studium der Schwangerschaften wegen. Dann ihre lebensfrisch frechen Teenager-Söhne Alex (Niklas Wetzel), verliebt in Sarah Black (Wassilissa List) und sein jüngerer Bruder mit der Gitarre Christopher (Jona Gaensslen), gleichfalls verknallt in Sarah. Dann die Holmes-Großeltern Charlie und Ellen (Peter René Lüdicke, Barbara Schnitzler). Sie ein verblühtes, übersehenes, alles emsig umsorgendes Hausmuttchen. Er, lüsterner Rentner, Ex-Handwerksmeister (Gebäuderestauration, Alex führt seinen Laden fort), fest befreundet mit Bier und Zigaretten.
Und so werden wir ein Stündchen lang Beobachter eines Allerwelts-Familienkladderadatschs, der moderat amüsant dahinplätschert. Immerhin mit einer Aufregung: Alex will zusammen mit Sarah türmen. In London soll mehr los sein als zuhause. Ansonsten: Nix besonderes; aber eigentlich alles ganz nett. Und langweilig.
Passt für Daniela Löffner, Fachfrau fürs realistisch genaue Auspinseln und Arrangieren von Familienaufstellungen. Sie sammelte bereits Lorbeer mit Klassikern wie Gorki, Schnitzler, Hauptmann; brillierte 2015, auch in den DT-Kammerspielen, mit Turgenjews „Väter und Söhne“, eingeladen zum Theatertreffen.
Und plötzlich klaffen die Risse
Jetzt also schaumgebremster Familienalltag. Durchaus effektvoll und nicht ohne Witz ausgebreitet. Raffiniert gemachtes Gewusel, noch weitgehend frei von Ahnungen, was alles drunter stecken könnte.
Doch dann erfährt man, quasi nebenher, dass Chris, der Kleine, durch bösen Zufall bei einem Autounfall ums Leben kam. Und das ist der machtvolle Schnitt.
Nun bricht die Oberfläche auf, zeigen sich die weggesteckten Konflikte: Das Unerfüllte in den Ehen, im Sex, im Beruf und Geldverdienen und überhaupt im gelähmten bisherigen Dasein, in der qualvollen Einsamkeit miteinander. Plötzlich klaffen da Risse, krachen Zerwürfnisse. Und Schluss ist mit So-Lala. Alles droht auseinander zu stürzen. Jeder will auf seine Weise das Spiel nicht mehr spielen, will Familienbande zerreißen, will abhauen.
Herzbewegendes Ensemble
Was der Autor sensibel entwickelt, wird von der Regie jetzt vehement durchgedrückt. War sie im ersten Teil der Geschichte auffällig gemach im Ton, womöglich zu gefällig im freilich meisterhaft arrangierten Plappern und Plätschern, dreht sie im zweiten, deutlich tragisch akzentuierten Teil, ums so forcierter auf – bis hin zur Anstrengung, zum Plakativen.
Dieses erstaunliche Manko an Feinzeichnung dämpft letztlich das sehr nuancierte, präzise und – ja schon – herzbewegende Ensemble (auch den zwei Nebenrollen sei applaudiert: Katrin Wichmann, Agnes Mann). Die Spielerinnen und Spieler auf der Höhe ihrer Kunst, die Regie nicht ganz.
Ein wuchtiges Menetekel schwebend am Himmel
Zum signifikanten Bühnenbild von Wolfgang Menardi: Der gesamte Bühnenraum in klinisch aseptischem Weiß als kontrastreiche Hülle des chaotischen und schmerzlichen Familienbetriebs der Holmes, deren Mitglieder zwischen häuslichem Möbelramsch im Hintergrund ihrer Auftritte harren auf sich verschraubenden Drehscheiben. Also auf deutlich unsicherem, auf schwankendem Boden.
Übrigens, noch kurz vor Schluss des Abends wird – hopp, hopp! – von den Holmes‘ eine Tafel zusammengeschoben und ein großes weißes Tischtuch über das weite dunkle Feld ihrer schwelenden Konflikte gebreitet. Für die versöhnlerische Feier des Status quo. Womöglich die Strandgut-Party.
Doch überm zwielichtigen Bier-Fest schwebt schwer symbolisch ein entwurmter Holzbalken aus der Werkstatt von Peter Holmes. Als Warnbild vor künftigen Katastrophen – bei den Holmes und überhaupt.
Kammerspiele des Deutschen Theaters, 24., 25. Mai und 19. Juni. Hier geht’s zu den Karten.
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Der Prediger Salomo sagts: „Ein jegliches hat seine Zeit.“ Eine alttestamentarische Weisheit – der Anlass für unendlich quellendes Schrifttum.
Aus der Fülle der Texte und Lieder zum existenziellen Thema hat die Schauspielerin Barbara Schnitzler eine launige sowie des Nachdenkens werte Sammlung für ihren aparten Vortagsabend gefiltert. Was da in neunzig Minuten leichtfüßig, charmant und sinnig dahin perlt, dem dürfte einiges voraus gegangen sein. Vor allem ein ausgiebiges Kramen in nahe- bis fernerliegenden Archiven und nicht zuletzt ein Wühlen in den Winkeln des Gedächtnisses mit Erinnerungen an selbst erlebte Katastrophen- oder Glücksmomente. Der Schnitzler Lust und süße Qual an dieser schönen Schwerarbeit des Zurückschauens, Entdeckens, Wiederfindens mag man – und soll es wohl auch – ahnen.
Natürlich, ihr Programm „mit Liedern, Texten und Gedanken“ zu einem, wie Barbara sagt, alltäglichen Phänomen, das hätte angesichts der Materiallage auch ein schwer lastiges werden können. Wurde es freilich nicht! Überhaupt nicht.
Dafür sorgen schon die erwählten Autoren wie Heine, Hofmannsthal, Brecht, Kästner, Grebe, Domin, Knef, Krug, Kunze oder Plenzdorf. Musikalisch geht es – mit dem großartigen Nikolai Orloff am Klavier – von Robert Schumann, Mischa Spoliansky über Lindenberg bis Terry Truck. Und natürlich den Puhdys – Paul, Paula, Plenzdorf: „…Jegliches hat seine Zeit, Steine sammeln – Steine zerstreun. / Bäume pflanzen – Bäume abhaun, leben und sterben und Frieden und Streit.“
Die Schnitzler macht alles frappierend minimalistisch; was sie locker beherrscht. Cooles Understatement, präzise, gern mit Ironie, gelegentlich Sarkasmus. Stimmungsmäßig etwa so: Fliegender Wechsel zwischen Mocca, Rotwein, Schampus, Schnaps. Und zwischendurch klares kaltes Wasser. Souveräne Dosierung. Eine feine kleine, intime Sache. Und doch ganz weit und tief und groß.
In der Foyer-Bar des DT, Pfingstmontag, 29. Mai. Hier geht’s zu den Karten.
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Big Party ist angesagt, denn Big Boss hat Geburtstag: Helge, Häuptling der Familie, wird sechzig. Da strömt die Sippe zum altehrwürdigen Familiensitz. Eine Band ist engagiert, Catering, Kellner, und die Gläser klingen. Die drei Kinder Christian, Michael, Helene herzen Mama, Papa, Großeltern und schlucken zusammen fleißig den Prosecco.
Da greift Christian (Jan Hallmann), der Älteste, zum Mikro: Die Laudatio auf Papa (Joachim Berger). Damit zündet eine Bombe. Wenn Papa badete, erzählt Christian, habe er immer ihn, den kleinen Chris, und seine erst kürzlich verstorbene Zwillingsschwester Linda bei sich gehabt. Sie mussten sich ausziehen, und dann hat Papa Liebe gemacht. Christian redet – zum ersten Mal! – Klartext: Jahrelang wurden wir vergewaltigt! Jahrelanger Missbrauch!
Sekunden entsetzter Stille. Dann schlägt die Familie zurück: Krankhaft kindliche Phantasie, alles Lüge, ungeheuerliche Nestbeschmutzung. Musik an und weiter feiern. Folgt Christians Bombe Nummer zwei: Mama Else habe es gewusst, geduldet und eisern beschwiegen. Kurzes Innehalten, gellendes Abstreiten und wieder Schwamm drüber und Weiterfeiern mit Tanz, Trallala, dreckigen Witzen plus Polonaise von der Bühne weg durch den Zuschauersaal. – Folgt Christians dritte Bombe: Die Zwillingsschwester Linda sei nicht einfach verstorben, sie habe sich selbst getötet. Tabletten.
Abruptes Ende der Party: Alles stürzt zusammen und auseinander. Schließlich schleppt Sohn Michael Papa Helge blutüberströmt zurück in die Location. Ob Selbstmord oder Mord (von wem?) bleibt unklar.
Partylust um jeden Preis
Das vielgespielte Familiendrama „Das Fest“ nach dem Drehbuch des gleichnamigen Films von Thomas Vinterberg und Morgens Rukow inszenierte Bettina Jahnke im flotten Wechsel der Kontraste zwischen frenetischer Feierlust und kurzem Aufschrecken mit anschließendem Unter-den-Teppich-Kehren des Grauens mit geradezu brutalem Eifer. Wirklichkeitsverleugnung total im pompös gutbürgerlichen Salon (Bühne: Dorit Lievenbrück) – mit ausladend Platz fürs Feiern unterm Kronleuchter.
Zur Uraufführung in Dresden anno 2000 dauerte die soghaft ins Horrorhafte wachsende Familienaufstellung gut drei Stunden. Jetzt, mit rigorosen Strichen und flotter Oberflächenregie erledigt sich das fix in neunzig Minuten. Folglich bleiben die Figuren schemenhaft, plakativ. Und werden obendrein ins Komische, ja Alberne getrieben bis hin zur grotesken Lächerlichkeit. Was dem wuchtigen, erschreckend virulenten Stoff peinlich entgegensteht.
Das Psychodrama vom allgewaltigen, zynischen Übervater und ehrenwert aufgeputzten Täter, der eigene Kinder skrupellos zu traumatisierten, von Angst gelähmten Opfern macht, bleibt also bloß angedeutet. Mithin gleicht Vinterbergs komplexe Erzählung vom Terror alltäglicher Gewalt innerhalb einer Familienbande in Jahnkes auf unterhaltsamen Krawall gebürsteten Kurzfassung eher einem Report aus der Sensationspresse als – um im Bild zu bleiben – einem feinfühligen Feuilleton, das die familiäre Schreckenskammer akribisch ausleuchtet.
Hans-Otto-Theater Potsdam, 26., 27. Mai und 4., 8. und 25. Juni. Hier geht’s zu den Karten.
1. Komödie Therapie in Eigenregie
2. Theater an der Parkaue Sein eigenes Ding machen
3. Vaganten Vorausschau auf „Genannt Gospodin“
1. Komische Oper Selbst gerettet, aus höchster Not!
2. Berliner Ensemble Im goldenen Käfig gefangen?
3. Hans Otto Theater Potsdam Im eigenen Körper gefangen?
1. Berliner Ensemble Liebe und Hiebe
2. Schaubühne Mischpoke im Knast der Traumata
3. Volksbühne Herzchen-Idyll mit Atombombe im Schuhkarton
1. Staatsoper Verloren in der Liebeswelt
2. Neuköllner Oper Fit bis zum Exitus
3. RambaZamba Der diskrete Zwang der Bourgeoisie
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“