HEUTE: 1. „Out of Chaos“ – Varieté-Theater Chamäleon / 2. Festivaltipp: Theater der Dinge / 3. Stark im Zwielicht: Groß- und NS-Staatsschauspieler Werner Krauß – zum 60. Todestag
Fünfzehn Jahre Überleben als frei finanziertes Varieté-Theater (Theater!) im Hotspot Berlin, der vollgestopft ist mit Entertainment von gigantisch bis ganz klein. Mit halbjährlichen Programm-Laufzeiten (= zwei Hauptshows pro Jahr plus punktuelle Sondergastspiele), mit Festverträgen über sechs Monate fürs jeweils engagierte Ensemble (einschließlich Krankenversicherung!). Mit Auslastungszahlen, die Gewinn bringen oder, auch das, am Existenziellen vorbei schrammen. Mit einer Grenzen bestimmter Sparten wie Schauspiel, Tanz, Comedy, Gesang, Video verwischenden Vision namens Neuer Zirkus; vor 15 Jahren noch eine ziemliche Novität hierzulande, die damals Mut verlangte, sie durchzusetzen.
Cirque Nouveau ist inzwischen überall durchgesetzt und wird fleißig auch von der hiesigen Konkurrenz betrieben. Sogar das satt subventionierte Festspielhaus in der Schaperstraße mischt da neuerdings mit und tut so, als hätte es das Genre erfunden. Nein, das Chamäleon hat es an die Spree gebracht, in sein aufwändig und also kostspielig hergerichtetes Jugenstil-Etablissement in den Hackeschen Höfen.
15 Jahre Chamäleon – eine Erfolgsgeschichte bezüglich Innovation, Casting, Kunstverstand (Anke Politz) sowie umsichtiger, wenn es sein musste wagehalsiger Geschäftsführung (Hendrik Frobel). Chapeau Geburtstagskind! Und ein Hoch seinen Eltern.
Und so begann die Premiere des neuen zirzensisch-theatralischen Programms „Out of Chaos“ mit einer frohen Ansprache der tollen künstlerischen Directrice Anke Politz ans Volk, an den Pulk der Fans und kunstsinnigen Sponsoren; obendrein war der lauschig illuminierte Saal angereichert mit Zelebritäten aus Politik und internationaler Diplomatie, sogar ein hoffentlich keine Immobilienansprüche geltend machender Preußenprinz wurde begrüßt. Einschlägige Spitzen der darstellenden Künste freilich fehlten. – Berührungsängste oder der althergebrachte Hochmut der Großkopferten gegenüber den kleinen wilden Füchsen?
Dabei trat eine in der einschlägig internationalen Szene berühmte, preisgekrönte Truppe auf: Nämlich „Gravity & Other Myths“ aus Australien mit ihrem in großen Teilen geradezu sensationellen Programm „Out of Chaos“.
Die neun Künstler arbeiten nahezu ohne Requisiten vornehmlich mit ihren Körpern, indem sie Menschentürme vielerlei Formen in schwindelerregende Höhen treiben und sie augenblicklich wieder in sich zusammenstürzen und gleich wieder neu, aber anders, aufzubauen. Ähnliches geschieht mit anderen Architekturen – mit Brücken, Burgen, Kathedralen. Dann wieder gibt es halsbrecherisches Bodenturnen, wobei die Leiber immerzu wie Bälle durch die Lüfte schießen. Schier schwerelose Körperschönheiten – Ballette in der Luft. Zwischendurch jedoch wähnt man sich in artifiziellen Choreografien aus der Welt des Modern Dancing; Gret Palucca oder Merce Cunningham und das gute alte (avantgardistische) Europa lassen grüßen.
Abgesehen von dieserart Hochleistungsturnen werden durch den gezielten Einsatz simpler Taschenlampen im stockdunklen Raum frappierende optische Effekte erzielt: Da bleibt nur das halbe artistische Menschen-Gebäude gereckt, derweil die andere Hälfte sich im Finstern blitzschnell umbaut. Rasende Verwandlungen, gefährliches Schwingen, Schwanken, Schrauben, Werfen, Wirbeln, Kreisen – dazu jede Menge Schrecksekunden im perplexen Parkett. Zu allem flüstern geheimnisvoll Stimmen, grummeln dramatisch Geräusche, raunt kontrapunktisch beruhigend sphärisches Getön. Und immer wieder arrangiert Regisseur Darcy Grant witzige, sympathisch selbstironische Momente, zieht aber letztlich alles ganz spielerisch ins Heiter-Luftige, eben Schwerelose. Harmonie jenseits von Chaos. Viel Beifall.
(bis zum 16. Februar 2020)
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Korrekt heißt diese bemerkenswerte und – im besten Sinne ‑ höchst eigenartige alljährliche Veranstaltung „Internationales Festival des zeitgenössischen Figuren- und Objekttheaters“. Organisiert wird sie von der permanent auf Innovationen erpichten Schaubude zusammen mit FELD, Podewil, Radialsystem und WABE. Das Motto dieses Jahrgangs lakonisch kurz: „Kaputt“.
Vom 23. bis zum 29. Oktober werden an fünf Spielorten 14 Inszenierungen, Installationen und Ausstellungen von Künstlern aus einem Dutzend Ländern gezeigt. Zum Start die Premiere Schaubuden-Eigenproduktion fürs noch ganz junge Publikum „verrückt!“: Im „kleinen Theater vom Ende der Welt“, so die geheimnisvolle Ankündigung, könne man Apparate, technische Überbleibsel und Abfälle sowie fragile, unheimliche Wesen bestaunen, die von einem Puppenspieler für einen kurzen poetischen Augenblick zum Leben erweckt werden.
Der rührige, verdienstvolle Festival- und Schaubuden-Chef Tim Sandweg sagt über das Motto „Kaputt“: „Was ist nicht alles kaputt: Die Welt fliegt auseinander, psychische Probleme nehmen zu, das mit dem Weltfrieden haben immer noch nicht hinbekommen, das mit dem Klimaschutz auch nicht. Doch es geht uns hier nicht allein um dystopische Szenarien, sondern vor allem um transformierende Momente: Erst wenn das Alte weg ist, kann Neues geschaffen werden. In der Kunst war Zerstörung schon immer ein probates Mittel. Nicht zuletzt: Kaputtmachen hat einen hohen Lustfaktor…“ – Da klingt womöglich ein alt-emanzipatorischer Schlachtruf an: Macht kaputt, was euch kaputt macht!
(23.-29. Oktober; Spielorte: Schaubude, FELD, Podewil, radialsystem, WABE. Nähere Infos und Termine: www.schaubude Berlin)
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Den „Jud Süß“ hat er nicht gespielt. Doch statt der Hauptrolle in Veit Harlans NS-Hetzfilm gleich fünf Nebenrollen auf einmal. Alles Juden, und jeder bösartig als niederträchtige Type verzeichnet. Werner Krauß hat sich danach gedrängt; sein Kollege Fritz Kortner hat ihm das nie verziehen.
Später schämte sich Krauß für sein antisemitisches „Jud Süß“-Mittun. Und entschuldigte sich beständig damit, keinerlei Sinn „für Politik“ gehabt zu haben. Bei den „Entnazifizierungsprozessen“ kam er, wenn auch mit knapper Not, damit durch als „Minderbelasteter“. Seine „Sühne“: Ein „Sonderbeitrag“ von 5000 Reichsmark, was etwa zehn Prozent der Gage für „Jud Süß“ entsprach.
Als der Schauspieler Werner Krauß zehn Jahre später, 1959 starb – am 20. Oktober ist sein 60. Todestag, delirierten die Nachrufe: Singulärer Epochenkünstler; sein Spiel sei ein Ausdruck gelebter Naivität gewesen, sei einer aufrichtigen, seltsam hintergründigen Einfalt sowie unablässiger Phantasie entsprungen.
Werner Krauß (1884-1959) galt unisono als einer der größten Schauspieler seiner Zeit. Als erster Spieler deutscher Zunge, dessen Tod die Medien europaweit beklagten. Noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod findet man hunderttausende Internet-Seiten über diesen Mann von „nüchterner Blondheit“; den „Faun mit Bratschenstimme“. Nein, er zählte nicht zu den „Gutaussehenden“ und fand sich selbst äußerlich „eher ausdruckslos“. Umso intensiver seine scheinbar ganz natürlichen Kraftakte für die Wirkung, die Publikumsüberwältigung durch Einfühlungsartistik.
Krauß – der klassische Aus-dem-Bauch-Spieler. Der bewunderte Magier einer völlig eigenständigen, stücktragenden Rollendarstellung von riesiger Spannweite. Weshalb er mit diktatorischen Regisseuren wie Max Reinhardt quer lag. Krauß konnte man nichts vorspielen, was Reinhardt so gern tat, der das „bunte Talent“ Krauß dennoch (allerdings in Maßen) schätzte. Man vermochte nicht, es auf die Ideen eines Regisseurs umzustilisieren. Einem derart phänomenalen Verwandlungsvirtuosen, der alle großen, alle Hauptrollen des Repertoires gespielt hat, galt es folglich als vollkommen suspekt, wenn ein Schauspieler „ich sein will“. Das Schlimmste sei, sich selber zu spielen – eine sagenhaft autosuggestive Selbstaufgabe durch Spiel…
Als Künstler fing er, jenseits einer seriösen Ausbildung, ganz klein an; noch als fahrender Gesell an widrigsten Schmieren. Dann spielte er sich ziemlich rasch über diverse Provinzbühnen steil empor nach Berlin ans Deutsche Theater sowie ans Preußische Staatstheater am Gendarmenmarkt, nach Wien an die Burg sowie nach Salzburg zu den Festspielen. – Ein heutzutage geradezu unglaublich ruhmreiches Künstlerleben, von der Kritik monumental dokumentiert. Alles lag ihm zu Füßen. Carl Zuckmayer beispielsweise, dessen Wilhelm Voigt im „Hauptmann von Köpenick“ Krauß uraufführte, schrieb: „Aus der Einheit von Geistigem und Natürlichen, von Begnadung und Arbeit, Sein und Streben, ’Zauberei’ und exakten Stilmitteln“ sei die „ungeheure Wirkung“ auf der Bühne zu erklären, was wohl das Wesen des Genies sei.
Befremdlich steht man solchen Huldigungen angesichts der Verführbarkeit des Privilegierten gegenüber, dem immerhin bevorzugte Informationsmöglichkeiten offen standen. Werner Krauß blieb dennoch schwer beeindruckt vom Nazibrimborium, das er auch, elegant zivil, auf dem Obersalzberg genoss, wo ihm Hitler als „Jesus unter den Jüngern“ vorkam. ‑ Krauß, der reine Tor, der reine Künstler, das reine Genie inmitten politischer Explosionen und Katastrophen und von denen gespenstisch unberührt. Die klassische Misere – geprägt durch kaltes Wegschauen, raffinierte Selbsttäuschung, geniale Dummheit. Also weg von den verbrecherischen Zeitläufen und hinein in ein musisches Elysium, das bleibt letztlich als das Widerliche an diesem „Gottbegnadeten“.
1. Deutsches Theater Links und rechts der Mauern
2. Vaganten Wartezimmer Haltestelle
3. Berliner Ensemble Puppenlustig
1. Schaubühne Daseinsmüdigkeit
2. Gorki Aufgespießt – Populistisches von links und rechts
3. Theater am Frankfurter Tor „I did it my way“
1. Deutsche Oper Augen zu und durch
2. Komische Oper Fressen und gefressen werden
3. Komische Oper Böse Hexe, gute Hexe
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte