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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 478

Kulturvolk Blog | Ralf Stabel

von Ralf Stabel

22. April 2024

Heute: 1. Hans Otto Theater – "Der Menschenfeind" / 2. Schlosspark Theater – "Achtsam morden" / 3. Buchempfehlung – "Kein Phönix ohne Asche"

 

1. Hans Otto Theater - Wer am besten lügt

"Der Menschenfeind" im Hans Otto Theater © Thomas M. Jauk

Das Ensemble des Hans OttoTheaters in Potsdam hat Molières „Der Menschenfeind“ in der deutschen Fassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens auf die Bühne des Theaters im Neuen Palais gebracht. Allein das Theater und diese Textfassung wären eine Ausfahrt wert.

Sätze aus dem Werk von 1666 wie „Wer am meisten lügt, erfährt die größte Verbreitung. Und wer am besten lügt, der kommt in die Zeitung“, scheinen von überzeitlicher Gültigkeit zu sein.
Aber was wäre ein Schauspiel ohne die Schauspieler*innen. In der Regie von Milena Paulovics wirft sich das Potsdamer Ensemble mit Verve ins Geschehen. Für die eigentlich vorgesehene Alina Wolff für die Rolle der Célimène wurde sehr kurzfristig Patrizia Carlucci für die Premiere und inzwischen für alle weiteren Aufführungen gefunden. Über sie ist im Internet zu lesen, dass sie als Talent beim Putzen in einer Potsdamer Familie entdeckt wurde. Das Leben schreibt wirklich die unglaublichsten Geschichten. Moliere aber auch. Denn diese moderne Eliza Doolittle ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Geschichte, und die geht so: Célimène wird vom Titelhelden Alceste (Henning Strübbe), das ist der Misanthrop, geliebt. Aber eben nicht nur von ihm – und das gefällt ihr. Weitere Mitspieler und Nebenbuhler sind: Alcestes Freund Philinte, der es gut mit ihm meint (Arne Lenk), der dilettierende und von Alceste beleidigte Verse-Schmied Oronte (Jon-Kaare Koppe). Als Marquise Clitandre tritt Jon-Kaare Koppe ebenso auf und Philipp Mauritz als ein weiterer Marquise namens Acaste. Célimènes Freundin Arsinoé wird von Kristin Muthwill gespielt und ihre Cousine Éliante von Nadine Nollau.

Zu erleben ist eine brisante Gesellschaftskomödie über Wahrheit und Schmeichelei, über wahre Liebe und Liebelei. In diesem brillanten Konversations-Stück, in dem das Ensemble sich eloquent in seiner ganzen schauspielerischen Vielfalt und Virtuosität präsentiert, schafft sich Alceste mit seinen unverblümten Äußerungen eben nur Feinde unter diesen Menschen. Und weil das offensichtlich nicht „von gestern“ ist, hat Pascale Arndtz Bühne und Kostüme und Michael Rodach dazu Musik geschaffen, die dieses komische, scheinbar historische Treiben auf ganz wunderbare Weise ins Überzeitliche versetzen.

Ich will der sein, der ich bin, ich!“ verkündet Alceste im Laufe des Stückes zur Verteidigung seiner selbst. Das klingt höchst aktuell – und nimmt den weltbekannten Song „I Am What I Am“ von Jerry Hermans vorweg, der bekanntlich auch in so einem „Käfig voller Narren“ gesungen wird. Und auch sein Ausruf „Heute ist nur Unfähigkeit gefragt“, kommt mir gar nicht so gestrig vor.

Schlosstheater im Neuen Palais, 25. April. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Schlosspark Theater - Hallervorden: „Ymm Ymm Ymm“

"Achtsam morden" im Schlosspark Theater © DERDEHMEL/Urbschat

Wer den topfitten 88jährigen Dieter Hallervorden endlich einmal so erleben möchte, wie wir ihn seit den 1970er Jahren aus dem Fernsehen kennen, kommt bei dieser Inszenierung von Philip Tiedemann voll auf seine Kosten.

Bernd Schmidt hat den Roman von Karsten Dusse für die Bühne bearbeitet. Herausgekommen ist eine rasante Kriminalkomödie mit viel Text und Action: Der Strafverteidiger Björn Diemel – grandios gespielt von Mario Ramos – kämpft gleich an mehreren Fronten: für und gegen seine kriminellen Klienten, mit seiner Frau Katharina – überzeugend zickig hier Ines Nieri – und irgendwie auch mit sich selbst. Sie schickt ihn daher zum Achtsamkeits-Coach.

Auftritt Hallervorden: „Ymm Ymm Ymm“ – Szenenapplaus. Im weiteren Verlauf offeriert er dem Juristen Lebenshilfe-Sprüche wie „Wenn Sie den Moment nicht bewerten, kann er auch nichts Negatives haben.“, „Suche nicht nach Aufgaben, die Aufgaben suchen dich.“ oder „Ein Weg wird nicht kürzer, wenn man rennt.“
Und Über-Lebenshilfe braucht dieser Mann wirklich, weil er ganz aus Versehen seinen Klienten Dragan Sergović – Hallervordens erster Ganoven-Auftritt – dadurch tötet, dass er ihn bei brennender Sonne im Kofferraum seines Wagens „vergisst“, während er ganz achtsam mit seiner Tochter das versprochene Wochenende am See verbringt. Er entsorgt das Problem kurzerhand mit Hilfe eines Häckslers. Unglücklicherweise stiehlt aber eine Krähe den Ringfinger des Opfers mit Siegel-Ring und legt diesen im Nachbargarten ab.

Von hier aus nun gerät der Strafverteidiger in die Fänge und Machenschaften rivalisierender Gang-Bosse, die es auf Dragan abgesehen haben. Hallervorden spielt sie, und das ist Satire pur, mit allen sprachlichen und gestischen Klischees: den Italiener Toni genauso überzeugend wie den Russen Boris. Aber nicht nur diese. Auch die Kanzleiangestellte Frau Bregenz, den alternativen Kindergärtner oder ein Kleinkind mimt er – und dazwischen immer wieder den alleswissenden Coach. Mir hat er am besten in der Rolle von Tonis Neffen Malte gefallen. Mit feinstem Dialekt aus Sachsen-Anhalt – Malte kommt aus Dessau-Roßlau, wie Hallervorden selbst – gibt er diesen Schurken fast liebevoll.

Ines Nieri übernimmt ihrerseits alle weiteren Rollen. Als da wären: die Tochter, der Dragan-Assistent Sascha, der Kommissar der Mordkommission, eine Nachrichtensprecherin, ein Bar-Dame und und und. Insgesamt übernehmen die drei zusammen 21 Rollen!

Diese Komödie zieht alle Register aus Klamauk, Slapstick und „Klamotte“ auf wunderbare Weise. Alles lebt von der Übertreibung, alle Charaktere werden überzogen dargestellt und persifliert. Das vollzählig erschienene Publikum honorierte jede sprachliche und gestische Pointe. Meine Sitznachbarin war in Begleitung extra aus Hamburg angereist, anschließend sagte jemand auf dem Heimweg: „Das war richtig richtig schön“.
Wegen der großen Nachfrage gibt es neue Termine im Januar und Februar 2025. Nix wie hin!


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Buch-Tipp - Die ganze Welt ist Bühne

Ulf Manhenke
Ulf Manhenke "Kein Phönix ohne Asche" © Edtion Winterwort

Was haben die Intendantin des Hans-Otto-Theaters in Potsdam Bettina Jahnke, der Schauspieler Thomas Bading, bekannt vom Deutschen Theater Berlin und der Berliner Schaubühne, Jörg Schüttauf, der uns als Tatort-Kommissar ins Wohnzimmer flimmerte, oder auch Sibylle Marx vom Kulturvolk gemeinsam? Sie sind alle Absolventen der Theaterhochschule „Hans Otto“ Leipzig. In der Wende „abgewickelt“, ist die Schauspiel-Ausbildung seitdem an der Leipziger Musikhochschule beheimatet.

Frei nach
Arnold Schönbergs 1911 erschienener Harmonielehre „Dieses Buch habe ich von meinen Schülern gelernt“ hat nun Ulf Manhenke, Professor an dieser Schauspiel-Abteilung an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, ein Buch vorgelegt, in dem er nicht nur die Absolvent*innen zu Wort kommen lässt, sondern darüber nachdenkt, was schauspielen ist, wer oder was Schauspielende sind und wie man/Frau ein/e solche/r wird, was dieses Zur-Schau-Spielen jenen bedeutet und was es am Ende den Zuschauenden bedeutet. Ein bemerkenswertes Buch, ein bemerkenswert interessantes Buch.

Der Aufbau ist so einfach wie logisch: Aussagen von Absolvent*innen zu ihrer Motivation, Schauspiel zu studieren, zu ihren Studienerfahrungen und zu ihrem Dasein als Akteure am Theater werden vom Autor kommentiert und kontextualisiert. Das Buch ist dadurch so lebendig wie lehrreich, so zeitgenössisch wie zeitlos.

Absolvent Mika bekommt zuerst das Wort und schreibt über seine Studienzeit: „Das war ein Forschen, Lernen und Entdecken, nicht nur für den Beruf, sondern auch für das Leben. Im besten Sinne des Wortes war es eine prägende und richtungsweisende Zeit. Sich seines Selbst bewusst zu werden, erforderte den Mut des Sehens, die unbändige Lust, die eigenen Sinne zu schärfen und so verbindlich in die Kommunikation mit sich selbst und seiner Umwelt einzutreten. Meine Zeit an der Schauspielschule erwies sich für mich als eine Art Arbeit am Fundament. Es war eine Lebensschule.“

Schauspielen heißt, so habe ich erfahren, die ganze Vielfalt, die Höhen und Tiefen des Lebens bewusst zu durchmessen. Und daher ist dieses Buch eben auch eines über uns. Shakespeare hat es schon so treffend auf den Punkt gebracht: „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab.“ Ja. Aber was dazwischen liegt, ist eben unser Leben.

Lesen Sie dieses Buch. Es spendet Lebensmut. Und vielleicht fällt Ihr Applaus für die schauspielerische Leistung – egal, wie Ihnen die Inszenierung gefallen hat – zukünftig noch freundlicher aus. Man muss diese Kunst, diese Künstler*innen einfach nach Kräften unterstützen.

Ulf Manhenke „Kein Phönix ohne Asche“, edition winterwork, 2023, 19,90 €


Extra-Tipp: „No time to dance“ – Ausstellung über die Künstlerin Noa Eshkol

Das Georg-Kolbe-Museum zeigt die Arbeiten der israelischen Künstlerin Noa Eshkol (1924-2007). Auf sie aufmerksam geworden bin ich durch die Bewegungsnotations-Methode Eshkol-Wachmann, die sie mit ihrem Ehemann, dem Architekten Avraham Wachmann, gemeinsam entwickelt hat. Die Ausstellung zeigt in Filmen, Fotos und Zeichnungen die Arbeiten der Tänzerin, Choreografin und Pädagogin. Und das ist eine wunderbare Zeitreise durch die Tanzgeschichte. Ich vermeinte Gruppenstudien von Mary Wigman zu entdecken, Ausschnitte aus dem Unterricht bei Palucca im Fach „Neuer Künstlerischer Tanz“ und Ausdrucksstudien von Jean Weidt. Die Dokumente vermitteln einen Eindruck davon, was in ihren Arbeiten in Israel vom „German Dance“ lebendig geblieben ist und weitergegeben wurde. Studiert hatte sie bei Rudolf von Laban, Lisa Ullmann und Sigurd Leeder.

Daneben sind auch ihre textilen Arbeiten als bildende Künstlerin zu sehen, die Titel tragen wie „Palästinensische Vase im Fenster“, „Dorf in der Ukraine“ oder „Felder in Polen“.
Besonders beeindruckt hat mich der Film „The undertaker“, in dem eine Gruppe junger Tänzer*innen Waffen und nicht deren Opfer zu Grabe tragen.

Georg-Kolbe-Museum, Noa Eshkol „No time to dance“ bis 24. August 2024. Im Georg-Kolbe-Museum erhalten Kulturvolk-Mitglieder ermäßigten Eintritt.

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